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Montag, 22. April 2002
frankfurter notizen
knoerer
10:07h
Als ich eigentlich aufstehen wollte, vorhin, nach dieser nicht allzulangen Nacht, fiel mein Blick ins Regal im fremden Zimmer in der fremden Wohnung und blieb am dicken Rücken hängt, sehr vertraut das Weiß auf Rot, www.rainaldgoetz.de. Habe mich dann festgelesen, nein, die Formulierung führt in die Irre: man liest sich nicht fest, sondern springt hin und her, fühlt, wie die eigenen Gedanken verflüssigt werden, wenn man Rainald Goetz in seinem Abfall für alle beim Denken zusieht. Ich habe damals, als es im Netz zu lesen war, nur gelegentlich vorbeigeschaut (ich weiß überhaupt nicht mehr, warum), aber jetzt, bei der fast unfreiwilligen Lektüre am Freitag Morgen war ich, wie eigentlich immer von Goetz, sehr begeistert. Ausrufezeichen um Ausrufezeichen möchte man an den Rand setzen, schon weil hier - in der Bewegung des Denkens allein alles stimmt - und sehr, sehr sympathisch ist. Er kommt ja auch zu Urteilen, die ich dann meistens sogar teile (gibt niemanden, der Klügeres und Richtigeres über Luhmann zu sagen hat), aber das ist nicht der Punkt. Dieser Blick auf die Welt ist das Eigentliche: alles muss bedacht werden, ohne dass man vorher schon wüsste, wie man's einsortiert, was man davon zu halten haben könnte. Alles kann Anlass werden zu einer Änderung des Goetzschen Koordinatensystems. Natürlich freut er sich über Menschen, Dinge, Sätze, die ihn bestätigen, in dem, was er vielleicht selber denkt, von dem er auch, an ihnen, erfährt, dass er es jetzt denken möchte. Aber das ist alles im Fluss und eigentlich, lockte nicht der Kaffee in der Küche und später der japanische Film auf dem unsagbar scheußlichen Uni-Gelände, könnte ich das jetzt immer weiter lesen, bis es oder der Tag zuende ist. Dann bin ich aufgestanden, im Regal neben der Tür aber fällt mein Blick schon wieder wohin: auf einen Dumont-Kunstreiseführer über die Marken - und ich traue meinen Augen erst mal nicht: verfasst von Roger Willemsen. Wussten Sie das? Ich wusste es nicht. Aber ich finde das ganz großartig. Man muss das alles eigentlich mal machen. Fernsehen. Uni. Konkret. Kunstreiseführer. Essays. (Nur dummes Zeug über Praschl muss man nicht schreiben, das nicht.) Eigentlich sollte Willemsen auch mal einen Roman schreiben - oder hat er schon, sollte mich gar nicht wundern. Und was im Internet machen. Diedrich Diederichsen hat ja auch einen Roman geschrieben, das habe ich auch erst neulich entdeckt, als ich ihn in Händen hielt, Herr Diederichsen der Titel (jedenfalls so ungefähr) und beim Hineinlesen formte sich der Vorsatz, das mal ganz zu lesen (was womöglich nie geschehen wird, aber der Vorsatz beweist schon, dass es ziemlich gut war). ------ Neulich in Wien erst wohnte ich um die Ecke von Freud, Berggasse. Das geht jetzt in Frankfurt so weiter: eine Querstraße weiter der Kettenhofweg, Nummer 123 eine scheußliche, von Suhrkamp gesponserte Tafel am Haus. Hier wohnte Adorno. Dann um eine andere Ecke der Theodor W. Adorno-Platz. Ist mir ja viel sympathischer und näher als Freud, Adorno jetzt, nicht der Platz, obwohl auch der viel angenehmer ist das der plattgesichtige Freud-Park vor ein paar Wochen - ob das für Frankfurt (das ich auch kaum kannte) genauso gilt wie für Wien? Sehr sehr viele hässliche Häuser gibt es hier, aber ich denke fast, dass das besser ist als die pompösen Einschüchterungsversuche, die man in Wien für gelungene Architektur hält. Das Hässliche kann man auch mal wieder abreißen, ohne dass einer groß rumschreien muss, aber reißen Sie mal das Rathaus ab oder Ferstels Universität in Wien: das gäb ein Gezeter, als wollte ein Neutöner die Staatsoper übernehmen. Übrigens hat Wien was mit meinem Architekturgeschmack angestellt, scheint mir, ich nehme puristische Regungen an mir war, die mir vorher fremd waren. Früher musste ich beim Anblick des Berliner Doms immer kichern, weil er so eine unförmige, so evident jenseits aller Geschmacksgrenzen befindliche Schachtel ist. Jetzt, als ich ihn neulich wieder sah, sträubte sich etwas, sehnte sich etwas nach Einfachheit, klarer Linie. ------ Und dann das, ich trete vor die Haustür, Westendstraße, radelt einer an mir vorbei, ich stutze, hinten drauf im Korb eine Tasche mit dem Eingekauften, ich sehe nochmal hin, ist das doch der Daniel Cohn-Bendit. Dabei bin ich in Berlin wochenlang unterwegs, ohne eine prominente Nase zu sehen. Obwohl, neulich war Katrin Angerer bei dem ganz grässlichen Bäcker vorne an der Frankfurter Allee, immerhin. ------ "Gewiß, gewiß, pflichtete Swann etwas verwundert bei. Was ich den Zeitungen vorwerfe, ist, daß sie uns alle Tage auf unbedeutende Dinge aufmerksam machen, whrend wir drei- oder viermal in unserem Leben die Bücher lesen, in denen Wesentlihes steht. In dem Augenblick, wo wir jeden Morgen fieberhaft die Zeitung auseinanderfalten, sollte plätzlich eine Vertauschung der Dinge stattfinden und in der Zeitung, ich weiß nicht was, die --- Pensées von Pascal stehen! (er hob diesen Titel mit ironischer Emphase hervor, um nicht pedantisch zu erscheinen). Und in dem Band mit dem goldenen Schnitt, den wir alle zehn Jahre nur einmal öffnen, fügte er hinzu, indem er für die Angelegenheiten der Gesellschaft jene Verachtung bekundete, die gerade manche Weltleute gern zur Schau tragen, sollten wir lesen, daß die Königin von Griechenland nach Cannes gegangen ist und daß die Fürstin von Léon ein Kostümfest gegeben hat. Dann wäre das richtige Verhältnis wieder hergestellt." Letztlich stelle ich mir eine Literatur vor, die wie Zeitung ist. Noch nicht mal wirklich BESSER als Zeitung, sondern nur erweitert um dieses eine reale Einzelmoment, das jeder einzelne Leser der Zeitung zufügt, durch sein Lesen, in Gedanken, in Gesprächen, durch seine Interessen, sein emotionales Geführtsein von seiner Geschichte, all das als sozusagen abstraktes Schwerefeld, nicht EIN konkretes Leben, sondern die allgemeine Tatsache, daß dem Allgemeinen ein Ich gegenübersteht, ixzillionenfach. Diese Kollision oder Interferenz: das wäre das mehr, das ich von einem Buch erwarte, von Literatur. Sciher nicht, daß sie ist wie Literatur, das ist sie ja eh. Da kann sie ja nur wegwollen davon." ------ Sehr lohnt es sich, ein kleines Stückchen nach Norden zu fahren, zum neuen Gebäude der Goethe-Universität, was ich tat, um einer Tagung zu "Tradition und Grenzen der Romanistik" eine Stippvisite abzustatten: ein versprengtes Häuflein Wissenschaftler, deren disziplinäre Profession ihre besten Zeiten hinter sich hat (von diesen besten Zeiten kann man in Hans-Ulrich Gumbrechts neuem Buch, "Vom Leben und Sterben der großen Romanisten", einiges nachlesen, vor allem das Kapitel zu Werner Krauss würde ich empfehlen). Das Gebäude aber, so umstritten der Einzug der Uni war- es war einstmals Sitz der IG Farben -, macht Eindruck: Ein Monumentalbau in einfachen Formen, wuchtig und zugleich nicht ohne Eleganz. Der Architekt ist Hans Poelzig, dem wir, unter anderem, das Gebäude des heutigen Filmkunsthauses Babylon in Berlin verdanken, das seit letztem Jahr wieder in altem Glanz erstrahlt (zuvor war die Decke eingestürzt und man musste jahrelang den Kopf sich verrenken im Blick zur provisorischen Leinwand im Foyer). Poelzig war aber auch ein bedeutender Filmarchitekt im deutschen Film der 20er Jahre, etwa die Ausstattung zum Klassiker "Der Golem, wie er in die Welt kam", entstammt seiner zeitgemäßen Fantasie. Kurioser noch ist, dass Poelzig auch in Hollywood noch auftaucht. Zwar hat er da nie gearbeitet, aber in Edgar Ulmers Film "The Black Cat", einem der gar nicht so zahlreichen gemeinsamen Auftritte von Bela Lugosi und Boris Karloff, sehr frei nach Edgar Allan Poe, trägt die sinistre Figur, die Karloff darstellt, den Namen Poelzig, was kein Zufall ist. Zum einen ist die Architektur des Hauses, in dem er lebt und Leichen vermauert, allein schon das Ansehen wert, zum anderen lässt sich daran auch ablesen, wie die deutschen und österreichischen Emigranten (Ulmer hatte zuvor unter anderem am wunderschönen Berlin-Film "Menschen am Sonntag" mitgearbeitet) mitunter eher bizarre Elemente ihrer alten Heimat nach Hollywood einschleppten und in ihren Filmen wie Tapetentüren versteckten.
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