Montag, 14. Februar 2005
Berlinale. Liu Jiahyn: Oxhide (China 2004)

Das schönste Erlebnis, das man auf einem Filmfestival haben kann, ist es, im Kino zu sitzen, nichts zu erwarten, den Film eines völlig unbekannten Regisseurs zu sehen und nach wenigen Minuten zu begreifen, dass man es mit einem Geniestreich zu tun hat. Leider ist das nicht nur das schönste Festivalerlebnis, das sich vorstellen lässt, es ist auch eines der seltensten. Gestern aber ist mir genau das passiert, aus heiterem Himmel, natürlich im "Forum des Internationalen Films", wo sonst.

Liu Jiayin ist eine Regisseurin aus Peking, 22 Jahre alt. Sie hat gerade erst mit dem Studium an der Filmhochschule ihrer Heimatstadt begonnen, "Oxhide" ist ihr Debüt. Hergestellt ist es mit den einfachsten Mitteln: Eine Digitalkamera, zwei Mikrofone, die sie sich geliehen hat, ein gutes, sagt sie später, ein schlechtes, daher die Unterschiede im Ton. Für zwei gute Mikrofone war kein Geld da. Es gibt keine Schauspieler, genauer gesagt: Es spielen Liu Jiayin selbst und ihre Eltern (und die Katze). Sie spielen sich selbst. Gedreht ist der Film in der 40 Quadratmeter großen Wohnung, die für keine Einstellung verlassen wird. Die Eltern und die Tochter spielen sich selbst und ihr Leben in der eigenen Wohnung.

Große Kunst wird daraus durch die Form, in der die Regisseurin diese nahe liegende Idee umsetzt. Der Film besteht aus 23 Einstellungen, die mit unbewegter Kamera gedreht sind. So radikal wie umwerfend sind die Ausschnitte kadriert. Nie erhält man einen Überblick über die Wohnung, nie bekommt man eine der Personen ganz in den Blick. "Oxhide" ist ein Film, dessen Intelligenz in der Art liegt, in der das Gezeigte und das Nicht-Gezeigte zugleich im Spiel sind. Ein Film, der die platte Abbildung vermeidet, indem er mit großer Bewusstheit und atemberaubender Entschlossenheit den Raum der Familie für die Kamera arrangiert. Nur für den oberflächlichsten Blick kann das kunstlos wirken.

Eine der ersten Einstellungen schon macht einem klar, wie präzise Liu Jiayin ihre 23 Kapitel inszeniert. Ins Bild kommen, wie es zunächst scheint, sinnlos zusammengestellte Gegenstände. In der Mitte der Teppich, links ein Foto, rechts etwas, das wie ein Sessel aussieht. Man kann das alles nicht genau erkennen, das Bild wirkt amateurhaft. Im Off unterhalten sich ein Mann und eine Frau. Es geht um Schriftzeichen, um Typografie, die Rede ist auch von einem Discount, man versteht nicht recht, was das soll. Das geht ein paar Minuten so, die Einstellung bleibt unverändert. Dann kommt ein bisher nicht gehörtes Geräusch hinzu, ein rotes Blatt schiebt sich aus dem Sessel, der, wie man nun begreift, ein Drucker ist. Die Stimmen haben über den Laden gesprochen, Zettel, die einen 50prozentigen Rabatt versprechen. Damit ist, aus dem Off, aus dem Drucker, der ein Sessel schien, eines der Leitmotive des Films entworfen. Jede Einstellung des Films ist, wie diese, wenn auch nicht immer mit einem Verblüffungseffekt, von einer formalen Konzentration, die man in der Sprache als gebundene Rede bezeichnen würde.

"Oxhide" ist ein Film über eine Familie. Diese Familie, die die Familie der Regisseurin ist. Es geht um den Vater, der Ledertaschen produziert und verkauft, seit Jahren gehen die Geschäfte schlecht, seit Jahren sind sie verschuldet. Man sieht die Familie beim Essen, beim Arbeiten, beim scheinbaren Nichtstun. Der Vater klagt sich an für seinen Misserfolg, er verachtet die Verkaufsmethode, die dem Kunden einen Discount vorgaukelt. Man spricht über die Zeitungsverkäuferin, die plötzlich gestorben ist, Mutter und Tochter beraten, wie man den Geburtstag des Vaters feiern kann. Jede dieser Szenen wirkt, wie man so sagt, ganz wie aus dem Leben gegriffen.

Und natürlich sind diese Szenen aus dem Leben gegriffen. Alles, was sie zeigt, wird die Regisseurin erklären, hat sich so oder ähnlich ereignet. Dennoch ist "Oxhide" kein Dokumentarfilm. Liu Jiayin hat ein genau ausgearbeitetes Drehbuch geschrieben, die Szenen lange mit ihren Eltern geprobt, Improvisation gibt es kaum. Die Eltern und die Regisseurin stellen sich selbst und ihr Leben dar, aber als Darsteller ihrer selbst. Die Einstellungen verknappen den Raum und reformulieren in der gebundenen Rede einer hier auf Anhieb fast schon in Vollendung gesprochenen Filmsprache die Wirklichkeit. In keinem der aktuellen Filme der Berlinale habe ich dergleichen gesehen, im Forum nicht und schon gar nicht im Wettbewerb. "Oxhide" ist eines der Wunder, die es ganz selten gibt. Es ist bisher der eine Film, den man unbedingt gesehen haben sollte.

 
online for 8101 Days
last updated: 26.06.12, 16:35

furl

zukunft

cargo

homebase

film
krimi
tanz/theater
filmfilter
lektüren
flickr

auch dabei

perlentaucher
satt.org

fotoserien

cinema
licht
objekte
schaufenster
fenster zur welt
schrift/bild
still moving pictures

vollständig gelesene blogs

new filmkritik
sofa
camp catatonia
elektrosmog
elsewhere
filmtagebuch
url
mercedes bunz
greencine daily
the academic hack
verflixt & zugenewst
eier, erbsen, schleim und zeug
vigilien
oblivio
erratika
gespraechsfetzen
relatin' dudes to jazz
ftrain
malorama
Instant Nirwana
supatyp
ronsens
herr rau
kutter
woerterberg
Av.antville
random items
sarah weinman
Kaiju Shakedown
The House Next Door
desolate market

aus und vorbei

darragh o'donoghue
etc.pp
boltzmann

status
Youre not logged in ... Login
menu
... home
... topics
... galleries
... Home
... Tags

... antville home
April 2024
So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.
123456
78910111213
14151617181920
21222324252627
282930
Februar
recent
Updike-Fotos Ganz tolle Updike-Fotos.
(Via weißnichtmehr.)
by knoerer (18.02.09, 08:36)
nasal Ein Leserbrief in der
morgigen FAZ: Zum Artikel "Hans Imhoff - Meister über die...
by knoerer (17.02.09, 19:11)
live forever The loving God
who lavished such gifts on this faithful artist now takes...
by knoerer (05.02.09, 07:39)
gottesprogramm "und der Zauber seiner
eleganten Sprache, die noch die vulgärsten Einzelheiten leiblicher Existenz mit...
by knoerer (28.01.09, 11:57)

RSS Feed

Made with Antville
powered by
Helma Object Publisher

www.flickr.com
This is a Flickr badge showing public photos from knoerer. Make your own badge here.