Mittwoch, 16. August 2006
das wollen wir nicht

Berlin wiederaneignen mit Hilfe der Zahnchirurgie. Heute nur Beratungstermin. Fahrt am Morgen mit dem Rad durchs südliche Außenfutter der Innenstadt, bei Sonnenschein und angenehmer Radfahrtemperatur. Man kann durchfahren von hier am Mehringdamm über Schöneberg, Charlottenburg nach Wilmersdorf. Ich beobachte die Wahlplakate und finde meine Erwartung, dass die Kandidatinnen und Kandidaten immer bürgerlicher werden von Ost nach West, nicht bestätigt. Viele Grüne sehen aus, wie früher FDPler ausgesehen haben. Dafür sehen die FDPler heute aus wie ehrgeizige, aber wegen mangelnder Härte zum Scheitern verurteilte Unternehmensberater. Schlagartig beginnt in Wilmersdorf die NPD-Plakatierung, alle Schilder in beträchtlicher Höhe. Keines ist verunstaltet wie die großen Werbeplakate der Telefonseelsorge entlang der Yorckstraße, auf denen nur ein Wort steht wie "Zuhörer" und "Anteilnehmer". Den vielen weißen Plakatraum darum herum haben Graffitisten für Texte wie "Stop Bush! Stop the War!" genutzt. In Wilmersdorf aber pöbelt der Neonazi Voigt die Vorbeifahrenden an: "Weiterdenken!" In der Praxis liegt auf der Anmeldetheke die Patientenakte eines Winnetou K*ampmann. Winnetou! Dass das gesetzlich möglich ist! denke ich - und denke (weiter!), dass das ein Wilmersdorfgedanke ist. Natürlich habe ich kein Gespräch mit dem Prof. Dr. Dr. med., sondern mit dem Küken der Praxis. Herr Dr. Gutschke ist jung, also jedenfalls jünger als ich. Herr Dr. Gutschke legt gleich los und ich verstehe nicht, was er da redet. Dann dämmert es mir: Er erklärt gar nicht, wie die Operation verläuft und warum sie nötig ist oder nicht, er hat gleich mit den Risiken angefangen. In seltenen Fällen bleibt der Nerv dann tot. Wenn ich in den Tagen nach der Operation fest zubeiße, kann der Nebenzahn, seines Nachbarn verlustig, wegkippen, dann ist er futsch. Nach der Extraktion kann ein Durchgang zum Nasenraum entstehen. Wenn Sie einen Schluck Cola trinken, kommt er dann zur Nase wieder raus. Das wollen wir nicht, sagt Herr Gutschke. Nein, das wollen wir nicht. Auf der Rückfahrt eine andere Route, über den Potsdamer Platz. Da waren wir gestern Abend noch im Arsenal (Letztes Jahr in Marienbad), und als wir rauskamen, haben sie im Dunkeln das IMAX-Schild abgeschraubt, denn das IMAX am Potsdamer Platz ist jetzt tot. Ich habe gelesen, dass in den Saal vielleicht eine Disco einzieht. Ich war in meinem Leben zweimal im IMAX und habe, aus Versehen beim zweiten Mal, zweimal denselben Film gesehen, über einen Ungarn, der nach New York kommt. Das Interessanteste war die historische Stereofotografie. Weiter mit dem Rad zur Friedrichstraße, in den Galeries Lafayette das Lieblingsbrot kaufen (angeschobenes Brot) und in der französischen Buchhandlung Guy Debords "Societé du spectacle" kaufen. Der erste Abschnitt: Toute la vie des sociétés dans lesquelles règnent les conditions modernes de production s'annonce comme une immense accumulation de spectacles. Tout ce qui était directement vécu s'est éloigné dans une représentation. Die Friedrichstraße hinunter. Jetzt ist Lucy Redler wieder da, in Wilmersdorf hängt sie nicht. Auch die WASG-Plakate hängen höher als die der CDU und der Grünen. Plakate am Straßenrand verkünden, dass Bernhard Brink jetzt im Fernsehen kocht und dass Supermann zurückkehrt. Oder umgekehrt. Am untersten Ende der Friedrichstraße, wo sie zur Fußgängerzone wird, gibt es neuerdings, in den Boden eingelassen, Platten mit Namen und Aussprüchen. Es handelt sich, das entnehme ich der letzten Platte, um den "Pfad der Visionäre". Jaroslav Seifert ist dabei, Sandor Marai, auch Ingeborg Bachmann. Auf ihrer Platte steht: "Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar." Keine Platte für Günter Grass.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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