Donnerstag, 21. Oktober 2004
Seminartagdiary II: ideen,die früchte tragen

Aufgewacht, draußen finster, fünf uhr dreiundfünfzig, aufstehen, in die PT-Redaktion. In Moabit dann Morgendämmer, die Laternen werden ausgeschaltet, sieben Uhr zwanzig. Am Mittag in den Zug nach Erfurt, ICE mit Stop in Leipzig. Aristoteles gelesen, Kapitel 6 der Poetik, die Tragödie. In Erfurt angekommen, in die Straßenbahn gestiegen, zur Uni gefahren, aus der Straßenbahn gestiegen, Capuccino getrunken, in den Seminarraum gegangen, sechzehn uhr fünfzehn. Immer noch fünfundvierzig Leute, ich frage, wer in der letzten Woche im Theater gewesen ist, zwei Leute, immerhin. Ich erzähle von meinem Theaterbesuch am Vorabend, Big Art Group aus New York, es ist nicht leicht zu beschreiben, was ich gesehen habe: Drei Leinwände auf der Bühne, drei Jungs an Laptops zwischen Publikum und Bühne. Ich gestikuliere mit den Händen, die Leinwände, die Personen, die sich auf der Leinwand umarmen, nicht auf der Bühne. Erstaunte Gesichter, aber sie hören zu, scheint mir. Wir sprechen über Aristoteles, sehr zuhilfe kommt mir, dass wir zwei konkurrierende Übersetzungen haben, deren eine Mimesis als Nachahmung wiedergibt, die andere aber als Darstellung. Damit kann man neunzig Minuten im Grunde bestreiten. Ich habe, wie eigentlich immer, kein festes Konzept, keine Aufzeichnungen, weiß nicht, was ich sagen werde. Das ist oft ein wenig riskant und als ich höre, wie ich sage, dass man Mimesis am besten einfach als Künstlichkeit übersetzt, muss ich doch einschreiten und hinzufügen, dass sie das besser nicht als Lehrbuchwissen abbuchen und mitschreiben. Kurze Fragen und Gespräche nach der Stunde. Eine Studentin möchte etwas über Schlingensief machen, einer etwas über den Stellvertreter, das ist so die Bandbreite.

Dann in die Straßenbahn, 18 Uhr. In der Straße vor dem Bahnhof in einen Laden der "McPfennig" heißt, dort beinahe einen Band mit Erzählungen von David Foster Wallace für zwei Euro gekauft. Eigentlich aber auf der Suche nach einem Getränk. Neben den Wassern mit Geschmack (ich hasse das) stehen, in der untersten Reihe Säfte, die ich noch nie gesehen habe. Ich greife zu Tymbark Kaktus. Ja, Kaktus. 1,3 Prozent, der Rest ist Wasser, Apfel und Limette. Und kleingedrucktes Zeug natürlich, von dem man lieber nichts wissen will. Auf dem Tetrapak (Tetra-Prisma Aseptic) steht: "Bienvenidos! Ein Kaktus ist stachelig [mit e, EK], aber beim Trinken merken Sie das nicht. Was Sie jedoch merken werden ist, dass sich Kaktus und Limette gegenseitig zu einem wunderbaren Geschmack anstacheln. Genial, oder? Darauf muss nämlich erst mal einer kommen! TYMBARK. Ideen, die Früchte tragen!" Über dem Tymbark-Logo ist ein grüner Bogen. Wenn man den Tetra-Pak umdreht, lächelt der Kaktussaft. Er schmeckt übrigens ungewohnt, nicht weiter definierbar, aber nicht schlecht. Ich trinke ihn aus bis Berlin.

Auf dem Bahnsteig. (Ich kann jetzt aber nicht jedes Mal etwas über die Stimme der Zugansagerin schreiben.) Ein Mann fällt mir auf, lang, der grau-beige Anzug etwas schlotterig um den Körper, er starrt und blickt ungeniert auf die Leute, die auf dem Bahnsteig warten, er ist fast eine Figur aus einer ETA-Hoffmann-Erzählung, ein Beamter, denke ich mir, ein Junggeselle in jedem Fall, einer, der am Feierabend Leidenschaften nachgeht, von denen man lieber nichts wissen will. Im Zug dann über den Gang rüber einer, der sich auf seinem Laptop Michael Manns "Collateral" ansieht, ich blicke gelegentlich hin und staune, wieviel langsamer die Zeit des Films vergeht, beim gelegentlichen Hingucken, als sie im Kino verging. Rechts vorne ein älterer Herr, der ein Buch mit arabischen Schriftzeichen liest, vielleicht ein Professor. Rechts hinter mir der ETA-Hoffmann-Typ, er isst einen Döner, es stinkt. Er ist fertig, aber nach ein paar Minuten höre ich ein Summen. Ich blicke mich um, es summt aus ihm heraus. Vor sich, aufgeschlagen, hat er eine Partitur, er sieht, dass ich ihn anblicke, hält kurz inne, dann summt er weiter. Später schläft er ein.

Ich lese im Toussaint weiter, da, wo ich letzte Woche aufgehört habe, meine Erfurt-Lektüre, die entsprechende Müdigkeit habe ich auch wieder. Toussaint erzählt Sachen mit einer Genauigkeit, ja Umständlichkeit, dass man denken könnte, es müsse noch etwas daraus folgen, etwas seine Bewandtnis damit haben, aber natürlich weiß man, nein, es ist, was es ist, nichts weiter. Aber dieses nichts weiter steckt in diesen Sätzen in einer Weise, dass man auch denkt, was sollte auch weiter sein, man verabschiedet sich vom Gedanken, dass die Welt voller Bewandtnisse ist, ein Mann, eine Frau, sie trennen sich, sie weint, er stößt ihr mitten auf einer Brücke in Tokio nach einem mittelschweren Erdbeben seinen Finger in ihr Arschloch, sagt aber nicht welchen. In Leipzig steige ich um.

Rechts vorne, mit dem Rücken zu mir jetzt ein Mann in meinem Alter, mit nach unten weg fliehendem Gesicht, schwarzer Pullover, den er in die Hose gesteckt hat, darunter ein Hemd mit weißen und schwarzen Streifen, ganz dünnen Streifen, Rillen eher. Er hält etwas in der Hand, das aussieht wie der Ausdruck von einer Computertomografie. Dann stellt er auf das Ausklapptischchen des Vordersitzes einen kleinen Bäckerkartonteller mit zwei Stücken Kuchen, rechteckig, aber eher Torte. Das eine Schwarzwälder-Kirsch-artig, das andere Käsecreme mit Fruchtingelee obendrauf. Er isst davon mit einem kleinen weißen Plastiklöffel. Dann ist er eingeschlafen, vom linken Tortenstück ist noch ein angenagter Rest übrig, ein Turm ohne Schlacht.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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