Montag, 18. Juni 2007
texturen

Ein Exponat, das fast keines war, in der Hannah-Höch-Ausstellung, ihr Adressbuch 1920 bis 1978, ein zerfleddertes Ding im Pappeinband, voller Einklebungen, Kommentare, Durchstreichungen und Umschreibungen. Nur eine Doppelseite liegt aufgeschlagen da, man ahnt die ganzen Leben nur, die hier auf Name, Adresse, durchgestrichene Adresse, neue Adresse, Lebensorte, Lebensjahre, Daten reduziert sind. Und das Adressbuch selbst, das sie achtundfünzig Jahre lang offenbar mitgeschleppt hat, das zum Konvolut wurde, Konvolut im Pappeinband, zerfleddert, das gesammelte Leben in Form seiner Beziehungen zu Menschen, die sie liebte und kannte oder mal traf und wieder vergaß, auf jeden Fall mitschleppte achtundfünfzig Jahre lang.

Man sieht, in dem Kentridge-Film, den die "Schmerz"-Ausstellung zeigt, einen Mann im Krankenhaus, ein Arzt, dann viele Ärzte um ihn herum, Eingriffe in seinen Körper und sein Geist als träumender. Faszinierend an Kentridge, das konnte ich jetzt, gestern, erstmals benennen, die fortwährend verschwimmende Beweglichkeit der Linien, und zwar fast mehr im Detail als im Grundzug der Transformationen immerzu. Wie die Umrisse sich weigern, umrisshaft zu bleiben, wie sie das Weite oder jedenfalls die Veränderung suchen, nicht Halt machen, nie Halt machen, sondern immer schon auf dem Weg sind von einer vergangenen zu einer zukünftigen Form. Vielleicht weniger ein Vibrieren (wie man wohl denken könnte angesichts der Beschreibung), eher ein Rutschen, dessen Effekt für mich nichts Unheimliches hat. Eine Lust vielmehr des Rutschens, Gleitens, der Verzicht auf die Anstrengung, Halt zu machen, einen Zustand zu fokussieren.

Andere Textur, in der "Schmerz"-Ausstellung: Valeska Grisebachs Arbeit "Narben", die Bilder zeigt von Narben und dazu Menschen erzählen lässt davon, wie sie diese sich zuzogen. Aus eigener Schuld oder Fremdheit, aus Wut oder Krankheit, im Gefängnis, im Streit. Wie sie damit leben, wie die Narben Teil ihrer selbst werden und sind. Das gesprochene Wort, der Narbenbericht, das gezeigte Bild, das Narbenbild, liegen auseinander und finden auch nicht zusammen, ohne dass dadurch eine Schizophrenie impliziert wäre. Vielmehr der Eindruck: Es gehört so. Es ist richtig so. Es scheint sogar fast, als gäbe es von der Filmemacherin kein Zutun.

In der Berlinischen Galerie, unten in einem riesigen, hohen Raum eine monochrom magentafarbene Wand, die man fast nicht ansehen kann, nicht lange jedenfalls, der Künstler heißt Rockenschaub und er hat den Raum mit der Magentawand unterteilt in einen größeren Raum und einen kleineren, etwa so, wie früher die Sporthalle an meiner Schule in mehrere Einzelhallen durch schwere Vorhänge unterteilt wurde, wobei über die Tribüne der Ball dann doch nach nebenan fliegen konnte. Hier aber ein lichter, dünner, durchsichtiger Vorhang nur, der den Raum teilt, aber doch so, dass man, blickt man von der Magentawand auf den Vorhang, einen großen Augentrost empfindet; ein lindes Licht fürs Auge, eine sanfte Berührung statt des Knalls des Magenta auf die Netzhaut.

Und Brice Marden, der die Rothko Chapel besuchte und sehr beeindruckt war. Der monochrome Wachsfarben auf die Leinwand aufträgt und als Farbflächen miteinander harmonieren und kontrastieren lässt nebeneinander. Oder sich auf eine Farbe beschränkt, in die wie in ein Rothko-Gemälde der Blick sich versenken darf, genießend. Keine Farbverläufe aber bei Marden, nur gelegentlich unten ein Rand, mit Farbe als Rest, nicht als Fülle, und doch prallt das Auge nicht ab, sondern gleitet wie die Hand über Seide über die Leinwand, als lohnte es sich, das ganze Bild kennenzulernen, obgleich es natürlich nichts zu entdecken gibt, obwohl alles ohne Überraschungen bleibt, versteht sich. Und die andere Werkgruppe, der Kalligraphie abgewonnen, sich schlängelnde Linien auf ebenfalls monochromatischem, aber weitaus weniger pastosem, oft fast aggressivfarbenem Hintergrund. Es kommt so ein Schein von Tiefe ins Bild, verwunschene Gärten aus Farben, von Schlangen bewohnt, die sich, wie es nur auf den ersten Blick scheint, nie mehr bewegen werden; kein Rutschen hier, kein Gleiten, und eben doch Bewegung, die für den Moment nur, scheint es, stillgestellt ist; denn nichts ist hier tot.

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