Sonntag, 7. Oktober 2007
Heiner Goebbels: Stifters Dinge. Haus der Berliner Festspiele (6.10.)

Vor dir liegt: eine Bühne, eine Landschaft, ein Gerätepark. Von Stifters Dingen, die der Titel verspricht, denkst du, erst einmal keine Spur. Drei Bassins, sich in die Tiefe erstreckend, zu Beginn ohne Wasser. Lautsprecher in einer Reihe auf der linken, ein einzelner auf der rechten Seite. Mit einem Gewicht beschwert eine kleine weiße Leinwand, die sich an Drähten später nach oben und unten, nach links und nach rechts bewegen wird, im Vorder- eher als Hintergrund. Später auch Leinwände, weiß, Vorhänge, Leinwand als Vorhang, Vorhang als Leinwand, die heruntergehen zeitversetzt und dann sich wieder heben. Rechts neben den Bassins, drei transparente Wassertanks mit Schläuchen, die zu den Bassins hin wie Rüssel aus den Tanks heraushängen. Zwei Rohre im Vordergrund rechts, mit Klappen daran; im Schlagen der Klappen an die Öffnung der Rohre gibt es später Geräusche, die in ihrer satten Dumpfheit, in ihrer Rohrvolumen-Fast-Schon-Didgeridoo-Haftigkeit zu den schönsten Geräuschen des Abends gehören.

Im Hintergrund aber mächtig wie ein Gebirge, eher im Dunkeln noch eine Weile, der Gerätepark. Das darfst du ganz buchstäblich verstehen, denn zwischen und neben aufgebohrten und aufgeklappten Klavieren Bäume mit kahlen Ästen, Bäume, wie sie auf nicht-naturalistischen Theaterbühnen immer schon, denkst du, Bäume vertreten, als Zeichen, die lesbar sind, ohne, vergeblich natürlich, nach der Fülle des Dings zu streben, das ist, was es darstellt, aber seinen Charakter als Darstellung darin gerade verfehlt. Diese Landschaft macht Geräusche, macht Musik, macht Musikgeräusche, die Klaviere setzen sich in Gang, man sieht auch Rechnerplatinen, man sieht das Funkeln und Glitzern von Leuchtdioden bei der Produktion von Goebbelsmusik.

Zuvor aber. Am Anfang. Auftritt zweier Bühnenarbeiter, die keine Performer sind. Oder: die alles tun, nicht als Performer wahrgenommen zu werden. Sie sind ganz bei der Sache, die keine Sache des Auftritts oder des Darstellens ist. Keine ihrer Gesten geht über die bloße Funktionalität ihres Tuns auch nur ein bisschen hinaus. Was sie tun, ist dies: Sie nehmen eine Bahre, die schwarz ist wie das Bassin, schwarz ist wie alle tragenden Teile der in den Bühnenraum sich erstreckenden Techniklandschaft, eine Bahre, die aber ein Sieb ist. Die Sieb-Bahre legen sie an den, von dir gesehen, rechten Rand des, von dir gesehen, vordersten Bassins. Sie nehmen schwarze Behälter, rechteckig, höher als breit und schütten aus ihnen weißen - unglaublich weißen - Sand auf die Bahre, verteilen ihn. Dann nehmen sie, einer, von dir gesehen, an den beiden vorderen, einer, von dir gesehen, an den beiden hinteren Griffen die Bahre und schütteln sie, nach links sich bewegend, so dass der weiße - der unglaublich weiße - Sand auf dem Boden des Bassins sich verteilt. Das wiederholt sich: zweites Bassin, drittes Bassin. Später lassen sie Wasser ein, in die Bassins, öffnen mit der Drehung eines Hahns die Tanks, durch deren Rüssel dann das Wasser läuft. Aber nicht, bis die Tanks ganz leer sind. Es bleibt Wasser in den Tanks, bis zum Ende des Abends. Dann: Exeunt Bühnenarbeiter. Der Rest des Abends: Du und die menschenleere Bühne, die Landschaft, der Gerätepark, der sich, von funkelnden Leuchtdioden und elektrisch rasenden Platinen begleitet, als Performer gibt, wenn du ihm jetzt diese alberne Subjektposition einmal zuschreiben willst. (Das Ende kommt dieser Albernheit freilich entgegen: Als es aus ist, als, da sprichst du jetzt aber rein figurativ, der Vorhang fällt, schiebt sich der Gerätepark vom hinteren Ende der Bühne einmal nach vorne, nimmt den Beifall entgegen und bedankt sich, denkst du, artig. Das Publikum bleibt aber erst zögerlich mit dem Applaus. Denn es ist kein menschliches Wesen da als Beifallsempfänger, auch die Bühnenarbeiter, um noch einmal zu unterstreichen, dass sie alles andere als Performer waren, tauchen nicht wieder auf.)

Dinge aber tragen sich zu im Laufe dieser Aufführung, die wie am Schnürchen programmiert ist und mit einer Präzision abläuft, die etwas Unerbittliches hat. (In Wahrheit, denkst du aber, versagt ja die Technik öfter als der Mensch. Ganz sicher steht ein Rechner- und Technikexperte in der Kabine der Souffleuse an diesem Abend, zum rettenden Eingriff bereit.) Dinge tragen sich zu wie aus dem Lautsprecher das Verlesen eines Stiftertexts.

Daraus: Es war unsäglich, welche Pracht und Last des Eises von den Bäumen hing. Wie Leuchter, von denen unzählige umgekehrte Kerzen in unerhörten Größen ragten, standen die Nadelbäume. Die Kerzen schimmerten alle von Silber, die Leuchter waren selber silbern und standen nicht überall gerade, sondern manche waren nach verschiedenen Richtungen geneigt. Das Rauschen, welches wir früher in den Lüften gehört hatten, war uns jetzt bekannt; es war nicht in den Lüften; jetzt war es bei uns. In der ganzen Tiefe des Waldes herrschte es ununterbrochen fort, wie die Zweige und Äste krachten und auf die Erde fielen. Es war um so fürchterlicher, da alles unbeweglich stand; von dem ganzen Geglitzer und Geglänze rührte sich kein Zweig und keine Nadel, außer wenn man nach einer Weile wieder auf einen gebogenen Baum sah, dass er von den ziehenden Zapfen niederer stand. Wir harreten und schaueten hin - man weiß nicht, war es Bewunderung oder war es Furcht, in das Ding hineinzufahren.

Das Ding: der Wald im Eis. Stifters Ding und Goebbels Dinge. Laute wie Dinge, Geräusche, Dioden, Pianos, später noch vom Band, aus einem Lautsprecher, nicht genau lokalisierbar, ein sphärisches Ding, die Stimme von Claude Levi-Strauss im Gespräch und Levi-Strauss, der nicht glaubt, dass es auf der Erde einen einzigen jungfräulichen Flecken noch gibt, den keines Menschen Fuß je betrat: die Stimme als Ding, gebahnte Wege, betretene Pfade.

Dann, später: Der Gerätepark mit den kahlen Bäumen, den klimpernden Pianos, Goebbels Geräuschdinge, auch die satt-dumpfen Rohre wieder (später), der Gerätepark, wolltest du sagen, setzt sich in Bewegung und beim Rückzug, im Rückwärtsgang zurück an den am Beginn ihm angestammten Platz, verteilt er Wolken, Gewölk (Geerle schreibt Stifter mehrfach in der Mappe; Geerle, Geräte, Geräusche - überhaupt ist Stifter, denkst du dir, der Dichter des Ge-, in dem sich die Individualität des Dings in die Allgemeinheit auflöst; Gedinge, denkst du, müsste er fast gesagt haben; aber eben darum auch die Liebe, denkst du, zum Wort Gerät und zum Fetisch des Getischlers mit dem Gerät aus Holz). Stickstoffwölkchen kräuseln sich über den Bassins, ein Stickstoffwölkchenteppich, weiß, weiß, ganz weiß im Schwarzen, später Blasen, die unter Aufwölken zerplatzen.

Eis, denkst du: ein Stifterding und Schnee: ein Stifterding. Der Wald: ein Stifterding. Die Natur, wenn Stifter sie in die Finger bekommt: ein einziges großes, von Goebbels vertontes Stifterding.

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