Montag, 21. Februar 2005
Berlinale, letzter Film: Frederick Wiseman: Welfare (USA 1975)

Das fortwährende Murmeln im Hintergrund, das Murmeln der Institution. Darüber komponiert Frederick Wiseman Auftritte von Gesichtern und Stimmen, die im Film niemals als das sich darstellen, was sie für die Beteiligten der Institution "Welfare" halber sind: fallförmig. Wie Wiseman zugleich verhindert, dass das, was man im Ausschnitt sieht, zu falschen conditio-humana-Behauptungen sich addieren lässt, wie er jede Bewegung in diese Richtung entschlossen blockiert, das ist die noch bewundernswertere Stärke seiner Darstellung. Wiseman setzt voraus, dass die Gesichter und die Stimmen für sich sprechen und eine Geschichte haben, gerade in der Unvollständigkeit, in der sie verbleiben. Vorausgesetzt bleibt auch etwas wie der mythische Entwurf eines murmelnden Hintergrunds, den man Leben nennen kann oder Gesellschaft und aus dem die Kamera da, wo sie ist, etwas herausfiguriert, das mehr als nur einen zufälligen Bezug auf diesen Hintergrund hat.

Das Individuum, das hier vor der Kamera erscheint, ist immer doppelter Sprecher. Es spricht für sich selbst und es repräsentiert, als einzelner, das, was man als nicht abzählbare, nicht erzählbare Vielzahl von Gesellschaft mitdenkt. Es ruft, im Sprechen für sich, diese Gesellschaft immer mit auf, es bringt das Murmeln der Vielen im Hintergrund nicht zum Verstummen. Es tritt aus dem Chor heraus, spricht, tritt zurück in den Chor, dessen Sprechen und Murmeln und Summen nicht abbricht. Das Chorische, das nicht anders kann denn als Allegorie des Sozialen in einem spezifischen Auftritt sich zu figurieren, ist bei Wiseman Sache der Komposition im Schnitt. Was die Kamera zeigt, wird sichtbar als Zusammenhang der Einzelnen und der Vielen erst in der auswählenden und Bild an Bild, Bild gegen Bild setzenden Zurichtung im Schnitt. Was man in "Welfare" sieht ist aus dem Leben gegriffen nur in dem Sinn, in dem das zwar immerzu anakolutisch aussetzende, aber noch und gerade darin unausgesetzte Sprechen in den Romanen des William Gaddis aus dem Leben gegriffen wäre.

Das Prinzip des Chorischen ist von repräsentativer Exemplarität scharf zu scheiden. Die Gesichter und Stimmen, die die Kamera auf den Stühlen und Gängen der Institution "Welfare" in der 14. Straße Manhattans während eines Monats im Jahr 1974 findet, repräsentieren nicht exemplarisch. Der Bezug zur Gesellschaft, aus deren Murmeln sie für den Moment heraustreten, ist ein metonymischer, kein metaphorischer. Genau das ist das Großartige an Wisemans Komposition. Die Stimmen sprechen für die ihnen eingeräumte Dauer, für die Dauer, die sie im Sprechen über sich sich einräumen. Wiseman eröffnet diesen Raum, indem er seiner Exploration eine feste Grenze setzt. Und er verhindert jede Ablenkung, indem er auf allfällige Markierungen seines Zugriffs souverän verzichtet.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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