Dienstag, 10. Mai 2005
a shrinking country

Wie sich der Raum und die Zeit ineinander stauchen können, verdichten, verdünnen. Aufbruch nach einer Woche am Morgen aus Cork, vom Flughafen, an dem gebaut wird mit Eifer und Eile. Daneben, durchquert vom Bus, der Zubringer ist für die Flugzeuge wie den keltischen Tiger und seine Symbole, das Industriegebiet, das aus dem Boden gestampft wurde in kürzester Zeit und nun einer gloriosen irischen Zukunft zuarbeitet. Die jungen Männer, die im Industriegebiet aussteigen, sprechen englisch miteinander, aber ihre Muttersprache ist es nicht. Klein ist der Flughafen, aber Internet, wireless und gratis, überall. Irische Zeitungen, von denen es so viele gibt, aber sonst nur der Guardian, nichts aus dem europäischen Ausland. Vor wenigen Jahren wurde der Cork Examiner umgetauft und heißt jetzt Irish Examiner, die Kulturhauptstadt Europas, von jeher die rebellische Second City des Landes, hat wohl damals schon etwas vom Wachstum ihrer Bedeutung geahnt. Sie liegt im Flusstal, man hat einen Blick, der sie vollständig zu erfassen scheint, wenn man hinunterfährt von der Flughafenseite, die Innenstadt eingefasst von zwei Armen des River Lee, der hinter der Stadt zum Strom sich weitet und ein paar Kilometer flussabwärts ins Meer fließt. Manchmal, wenn die Wolken sehr niedrig sind, scheinen sie sich weiß und wuchtig über den Hügel auf der anderen Seite zu schieben, ein friedliches Watteheer. Abrupt wechselt das Wetter, minutenlang scheint manchmal noch die Sonne, obwohl es schon regnet. Für Regenbogen aber scheint keine Zeit und kein Platz zu sein.

Die Stadt ist geschäftig, sehr belebt, alle internationalen Ketten vertreten, aber auch der English Market ist höchst lebendig, die Markthalle, in der Fisch und Schokolade, Fleisch und delicatessen üppig sich ausbreiten und ohne falsche Bescheidenheit auf den Wohlstand hinweisen, der breite Schichten der irischen Bevölkerung eher unvorbereitet getroffen hat. In vielen Geschäften und Lokalen die Schilder: staff wanted. Unsere Vermieterin, die in Cork geboren ist, zeigt sich wenig beeindruckt. Sie organisiert die Charity Shops einer Kirchengemeinde und sieht viel von der Kehrseite des Globalisierungsgewinnlertums. Immer wieder schüttelt sie den Kopf, wenn ich sie nach dem Wirtschaftswunder frage, einer der Charity Shops musste gerade schließen und als wir durch den Stadtteil Togher fahren, rät sie mir davon ab, mich nachts dort herumzutreiben. Viel Geld will sie nicht, für die Übernachtung. Das Haus, in dem sie seit langem lebt, befindet sich ganz in der Nähe eines kleinen, künstlich angelegten Weihers, in dessen Inneren auf einer von Pflanzen umwucherten Insel Enten und Schwäne und Gänse leben und brüten. Morgens versammeln sie sich in großen Scharen auf den Wiesen um den Weiher, abends schwirren einem die Fledermäuse um die Ohren, auf dem Rundweg darum herum.

Die Konferenz, die ich besuche, trägt den Titel "Money and Culture" und wahrscheinlich passt das. Alle sprechen englisch, aber nur für eine Minderheit ist es auch die Muttersprache. Leise Akzente und heftige Akzente sitzen auf den englischen Wörtern und reiten manchen Satz ins Unverständliche. Jochen Hörisch, der keynote speaker, erzählt, dass er seinen Text von einem amerikanischen Austauschstudenten habe ins Englische übersetzen lassen. Heraus kam eine Wort-für-Wort-Übertragung, ego und alter, zitiert er, wurde ihm präsentiert als ego and age. Er hat dann an einem Tag den ganzen Vortrag selbst übersetzt, obwohl er des Englischen nicht gerade prächtig mächtig ist. Aber der Charme des launig-bärtig Cherubshaften reißt manches raus. Es ist eine der im angelsächsischen Raum sehr üblichen Tagungen, bei denen mehrere Panels gleichzeitig stattfinden und sich deshalb viel zu viele Teilnehmer auf den Gängen drängeln. Das Niveau schwankt stark. Wirtschaftsliberal geht es auch an der Uni zu: Die Räume müssen von den Veranstaltern – die Angestellte der Universität sind – von der Universität angemietet werden, auch das technische Gerät, für teures Geld. Schmutz starrend die Tische, keiner da, der einem erklärt, wie alles funktioniert. Wie solche sinnlosen Gesten von Effizienz und Profitmaximierung nicht nur dumm sind, weil sie Zeit, Geduld, Energie kosten, sondern auch eine Schäbigkeit produzieren, die als sekundäre Armut den gewöhnlichen Mangel an Lieblosigkeit weit übertrifft.

Zu sehen sind, auf den ersten Blick und einen weiteren erhascht man in der Regel kaum, wie immer bei solchen Tagungen vor allem Typen: Menschen in Aggregatszuständen von Karriereförmigkeit. Es gibt die mehr oder minder Gescheiterten, die Arrivierten, die, die noch hoffen und die, denen der Wille, es zu schaffen, in die Modulierung jedes Satzes geschrieben ist, den sie formulieren. Alles hinter sich hat der Dekan, ein Musikwissenschaftler, der im Schlabberpulli die Eröffnungsrede spricht und einen nicht so netten, beinahe pointenlosen Schwank über einen Komponisten erzählt, der keinen Kredit erhält. Einer der beiden Veranstalter, der aus Deutschland stammt, begrüßt die Gäste mit ein paar gälischen Sätzen. Das gehört hier dazu. Der Verlust der alten Identitäten wird mit Nationalismen kompensiert: Von der Regierung propagierte Rückbesinnung aufs Irische. Unsere Vermieterin dagegen, eine Vertreterin des Patriotismus alter Schule, bedauert, dass das gälische Wort für Auto inzwischen durch das englisch "car" ersetzt wurde. Ein echtes Verlustgefühl, sozusagen, und auch hier wieder das Sekundäre der künstlichen, Traditionen fundamentalistisch falsch neuerfindenden Rückwärtsgewandtheit, das alles primär Reaktionäre an Scheußlichkeit noch einmal übertrifft. Erstmals in seiner Geschichte ist Irland ein Einwanderungsland, man sieht auf den Straßen Menschen aus aller Herren Länder, nicht so viele, aber es ist doch unübersehbar. Der Rassismus greift um sich, man muss nur Taxi fahren, sagt ein Bekannter, ein deutscher Wissenschaftler, der in Galway arbeitet, einem einst beschaulichen Ort am Meer, der nun die am schnellsten wachsende Stadt Europas ist. Merkwürdig, wie sich die Probleme zu gleichen scheinen, in der shrinking city Frankfurt (Oder), die ich aus jahrelanger Anschauung kenne und in den exploding cities der Wirtschaftswundernation, auch wenn auf den ersten Blick alles anders ist.

Mit Ryanair, der low-fair-line, bei der man für vier Euro eine Dose Bier im Flugzeug kaufen kann (der Flug ist im günstigsten Falle billiger), fliege ich erst nach London-Stansted, der weit außerhalb Londons ins Grüne gebauten, architektonisch am Modell "Zelt" orientierten Abfertigungsstätte für diverse Billigfluglinien. Überall die Plakate, die zeigen, von wo nach wo geflogen wird, für wenig Geld, alles wie improvisiert, rasch hochgezogen, noch nicht fertig, auf Dauer im Umbau. Draußen, vor den Türen: Felder. Wer etwas über Nicht-Orte lernen will, wird hier Schritt für Schritt fündig. Irrealer noch dann die nächste Station, Frankfurt-Hahn. Nicht nur von Frankfurt keine Spur. Hier fliegt nur Ryanair, das ganze nicht größer als ein Provinzbahnhof, aber am zweiten Terminal wird bereits gebaut. Eine merkwürdige Mischung aus Goldgräberstimmung und ländlicher Verschlafenheit. Werbe- und Hinweisschilder, an die keine professionelle Agentur Hand angelegt hat. Ein Boom, bei dem sich die ausgefuchste Computerberechnung von Fluggastzahlen und Preisen und der von wirklicher Geschäftstüchtigkeit noch nicht allzu sehr getrübte Wunsch nach Teilhabe, der die Leute in der Gegend eher unvermittelt ereilt hat, merkwürdig mischen.

Das Busunternehmen Bohr mit seiner Basisstation gleich neben dem Flughafen, das einen Shuttle-Bus nach Frankfurt (Main) anbietet, eine Stunde fünfundvierzig Minuten zum Hauptbahnhof (Hintereingang), durch eine Landschaft, die weder shrinking noch exploding aussieht, sondern einfach nach Heimat und Heimat 3 – und im dritten Teil der Fernsehserie kann man ja sehen, wie einer der Simons, der mit seinen Geschäften kein Glück hat, sich den alten Militärflughafen Hahn ansieht, um Gebäude für seine Firma zu nutzen. Edgar Reitz schreibt das ein in alte Muster von Vater-Sohn-Kämpfen, aber wenn man hier ist, sieht man rasch, dass das ein nostalgischer Zug ist. Dieser Ort ist mit keiner Heimat mehr verbunden. Er ist eine Gelegenheit, ein Koordinatenpunkt, an dem eine Geschäftsidee Gestalt annimmt, ohne Beziehung zu Grund, Boden, Geschichte. Wie stets in solchen Fällen ist die allem Konservativen abgewandte Seite des neuen Liberalismus sehr handgreiflich zu spüren, das von der Scholle Befreiende daran, aber auch die Rücksichtslosigkeit, mit der hier alles durchschnitten wird, das Bindung wäre, Heimat, Verortung. Einer der Vorträge auf der Tagung ging um das neue, das virtuelle Geld und Kunst, die nach Repräsentationsmöglichkeiten dafür sucht und die Referentin von der University of California, Santa Barbara, die etwa in meinem Alter ist, rattert mit der Geschwindigkeit und Humorlosigkeit eines Maschinengewehrs die neuesten Theoriediskurse herunter, hat alles gelesen, kann alles erklären und sucht dann doch mit einer Geste, die einem ganz anachronistisch vorkommt, nach Subversionsmöglichkeiten zwischen hacktivism und Cyberkunst.

Auf der Busfahrt über die Autobahn, während ich im SPIEGEL die Titelgeschichte lese, die rhetorisch danach fragt, wo man die Oma hinsteckt, wenn sie es nicht mehr schafft, höre ich im Radio, das läuft, einen Bericht, in dem die Befürchtung geäußert wird, dass die Frankfurter Börse zur Provinzbörse wird in naher Zukunft. Ich verstehe nicht warum, das Radio ist nicht sehr laut, aber als wir auf Frankfurt zufahren und die Bankentürme auftauchen, muss ich an die deutschen Banken denken und daran, das überall zu lesen ist, sie seien zu klein für den globalen Markt und würden bald aufgekauft von größeren Banken. Gleich kommen mir die Hochhäuser niedrig vor und Frankfurt sehr klein, eine shrinking city in a shrinking country. Mit dem ICE geht es von Frankfurt nach Würzburg, wo ich eine Viertelstunde Aufenthalt habe und kurz auf den Bahnhofsvorplatz hinaustrete, um sentimentalen Erinnerungen nachzuhängen, an den Beginn des Studiums, Anfang der 90er Jahre. Auf den ersten Blick hat sich wenig verändert, der etwas unförmige steinerne Brunnen auf der Rasenfläche vor dem Bahnhof muss seit einiger Zeit schon von einem schiefen Holzgerüst gestützt werden, damit er nicht zusammenbricht unter der Last seiner Jahre.

Zuletzt, es ist sehr dunkel, der Bummelzug, der mich nach Hause fährt, in die Heimat, die kleinen Orte abklappert, Ochsenfurt, Uffenheim, Oberdachststetten, Ansbach. Ich lese, den ganzen Tag schon, im Flugzeug, auf dem Flughafen, im Zug, Colm Toíbíns Roman "The South“, die Geschichte einer Frau, die Anfang der 50er Jahre aus Irland flieht und aus ihrer Ehe, aus ihrem kleinen irischen Dorf nach Barcelona, sich in einen Maler verliebt, der einst gegen Franco kämpfte. Sie ziehen in ein Pyrenäendorf, es gibt einen anderen Mann und Toíbín erzählt mit Lücken, ohne aus irgendetwas ein Geheimnis zu machen, in sehr einfachen, sehr kurzen Sätzen, die doch nicht auf falsche Wucht aus sind. Es ist eine sehr traurige Geschichte, obwohl es um ein Leben geht, das man nicht als misslungen bezeichnen kann. Sie ist traurig, weil man sieht, dass auch ein solches, vielleicht sogar gelungenes Leben voller Abschiede ist und unerfüllter Hoffnungen und dass auch die Erfüllungen nicht von Dauer sind. Als ich in Ansbach aussteige, das Bahnhofsgebäude ist bereits abgeschlossen, aber natürlich kenne ich den kürzesten Weg darum herum, bin ich noch nicht ganz fertig mit dem Buch. Auf der anderen Seite des Gebäudes wartet mein Vater mit dem Auto, es ist kurz vor Mitternacht. Er erzählt mir, dass auch die zweite der beiden Katzen, die sie letztes Jahr zu sich genommen haben, innerhalb weniger Wochen überfahren worden ist. Im Bett lese ich die letzten Seiten des Buches, es endet friedlich, aber ohne falsche Versöhnlichkeit.

 
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