Montag, 3. Oktober 2005
zehn wege 2: zur schule (carolinum)

Zum Kindergarten, zur Grundschule, zur Kirche, zu den Großeltern geht es erstmal geradeaus oder rechts, das ist egal. Links aber in die Stadt, zum Gymnasium. Die Jüdtstraße hoch, vorbei am Weiher, den ich vom Schlittschuhlaufen schon kenne, vorbei an der Fahrschule, in der ich viel später zu launigen Kommentaren des kurz vorm Ruhestand befindlichen Fahrlehrers die Bögen ausfüllen werde. Vorbei an Häusern, mit denen mich nie etwas verbinden wird, aber auch am später erst, auf dem Gelände des Opel-Autohauses erbauten Alten- und Pflegeheim, in dem meine Großmutter ihre letzten Jahre verdämmerte, in einer Welt, von der sie nur noch verstand, das sie hinter ihr her war. (Panisch vollgekritztelte Zettel, die sich in Schalen fanden, auf dem Tisch, unter dem Tisch: Wo ist meine Wohnung, mein Geld. Und eigentlich meinte sie: Wo ist mein Leben? Es war da schon vorbei.)

Ein Zebrastreifen unten am Ende der Straße, am Seifen-Hauboldt vorbei, an dem ich tausendmal vorüberging und keine zehn Mal etwas einkaufte, die große Straße und dann linker Hand das Schloss, von dem ich eigentlich nie begriffen habe, in welchem Verhältnis es steht zur Stadt, die meine Heimat war. Zu nichts nutze, ein Graben darum herum, beeindruckend, aber nicht ganz von menschlichem Maß. Hätte ich das Wort gekannt, hätte ich vielleicht gedacht: Ein Fremdkörper. Dabei hat mein Vater lange Jahre dort gearbeitet, im Schloss, aber ich habe ihn nie – oder fast nie, ich erinnere mich nicht - besucht. Selbstverständlich kannte ich Kafka noch nicht. (Aber ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Vater, mit dem ich mich kaum je in dieser Weise unterhalten habe, dieses eine Mal aber schon, im Urlaub, ich weiß nicht mehr wo, mein Vater, der also, ohne je etwas von ihm gelesen zu haben, mich fragte, warum man das lesen müsse, Kafka, es sei doch seines Wissens so finster. Was sagt man da? Aber es ist doch große Literatur – ist es das, was man sagt? Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, aber ich glaube mich zu erinnern, dass mein Vater skeptisch blieb, jedenfalls hat er natürlich bis heute nichts gelesen von Kafka, aber er liest auch sonst überhaupt keine Belletristik.)

Der Innenhof im Schloss, durch den ich gehe, auf dem Weg zu Gymnasium, heißt "Die Reitbahn", einer der vielen Namen, die man lange akzeptiert, ohne sich zu fragen, warum das so heißt, Wörter, die sich vom Sinn, den sie eventuell haben, lösen (und irgendwann stolpert man über ihn, den möglichen Sinn und die Tatsache, dass sie mehr sind als nur ein Wort). In der Reitbahn parken immer Autos, außer am Mittwoch und Samstag, da ist Wochenmarkt und immer schon habe ich Wochenmärkte gehasst. (Das korreliert natürlich mit meiner Liebe zu Malls. Zwanzig Jahre später erst, also nachdem ich die Stadt schon verlassen hatte, oder sollte ich hinter mir gelassen sagen, haben sie eine Mall gebaut, auf dem Kasernengelände, das die Amis verlassen, ja zurückgelassen hatten. Eine Brachfläche plötzlich inmitten der Stadt, es gab den Vorschlag, einen großen Park daraus zu machen. Es wurden dann eine Mall und eine Hochschule. Jahrelang stand ein Panzer vor dem Eingang der Ami-Kaserne – nicht auf dem Weg, den ich gerade gehe -, den ich eine ganze Weile mit Ehrfurcht betrachtet habe. Wie lange es dauert, bis man aus manchen Dingen herauswächst.)

Weiter, nicht aufhalten lassen von solchem Schweifen durch die Zeit. Der Platz, der heute Montgelas-Platz heißt und früher anders hieß und, weiß der Teufel, ich erinnere mich nicht mehr wie. Jetzt die Fußgängerzone, alles verändert sich hier, hat sich verändert, wird sich verändern, es ist doch so, dass im Stadtkern nichts bleibt, wie es ist, vor allem, wenn nicht weit davon eine Mall gebaut wird und der etablierte Einzelhandel entweder fahnenflüchtig in die Mall zieht oder stur und sinnlos am alten Ort ums Überleben kämpft. Wäre ich vorne, gleich hinter der Reitbahn, links die Gasse abgebogen, an der Krypta von St. Gumbertus vorbei, wäre ich beim Bücher Nagel vorbeigekommen, der die Taschenbücher immer alphabetisch geordnet hatte, an diesen Drehständern – im Gegensatz zu den drei anderen Buchhandlungen der Stadt, die andere Ordnungsprinzipien vorzogen. Beim Kaspar Hauser, ökologisch, links, mit ganz vielen Folk-Platten (und ich habe, fällt mir gerade ein, noch eine Subskription auf den zweiten Band der Herzgewächse laufen), da ging es thematisch zu. Ein Wunder fast, dass der Laden noch existiert.

Bücher Nagel nämlich, bei dem das mittelfeine Bürgertum einkaufte (im Unterschied zum superfeinen Bürgertum, das zum Seyerlein ging, den ich kaum je zu betreten wagte), Bücher Nagel gibt's nicht mehr. Bücher Schreiber war und ist ein bisschen undefinierbar. Er liegt jetzt linker Hand, es stehen immer Bücherkisten davor, in denen aber grundsätztlich nichts Interessantes zu finden ist. (Was für die anderen drei – jetzt, noch: drei - Buchhandlungen nicht gilt.) Der Softeisstand, zwanzig Pfennig das kleinste, nur für Schüler. Dann oben das Rialto, später, viel später erst hier Kaffee getrunken, Eis gegessen und ein, zwei Gassen, alle schmal, manche recht finster und dann die Schule, in rosa, ein paar Jahrhunderte alt, früher ein Gefängnis, das ist wirklich wahr, mit einem Kerkerturm, in den Fräulein Merz, das Gerücht gab es, manchmal Schüler zum Nachsitzen sperrte.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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