Donnerstag, 16. Februar 2006
Sidney Lumet: Pleading Guilty (USA 2006, Wettbewerb)

Manchmal versuche ich, mir die Entscheidungsfindungsprozesse für den Berlinale-Wettbewerb vorzustellen. Der folgende – rein fiktive - Dialog wird geführt zwischen einem Mann mit Filmsachverstand und einem, dem das Kino als Kunst völlig am Arsch vorbei geht, der nichts als Proporzerwägungen der unterschiedlichsten Art im Kopf hat. Ich nenne den einen T., den anderen K. Das Gespräch nach der Sichtung von Sidney Lumets "Pleading Guilty" ging, denke ich mir, ungefähr so:

T: Puh. Ich wusste gar nicht, dass Sidney Lumet überhaupt noch Filme macht. Hätte er wohl besser auch bleiben gelassen.

K: Ich mag ihn.

T: Was?

K: Ich mag den Film. Das ist ein Hollywoodfilm, wir haben zu wenige Hollywoodfilme.

T: Das ist kein Hollywoodfilm; da steht kein Studio dahinter, hast du die Credits gesehen. Vermutlich stupid German money. Und dümmer wird's nicht.

K: Hey, ich mag ihn. Dieser Vin Diesel, das ist doch ein Star?

T: In Actionfilmen.

K: Ein Star!

T: Auf dem absteigenden Ast. Und er ist furchtbar. Der ist doch kein Schauspieler, ich konnte kaum hinsehen.

K: Schauspieler Schmauspieler. Ein Star für die Jungen, dazu ein Regie-Altmeister...

T: Auf dem absteigenden Ast. Freundlich gesagt. Das ist, wenn du mich fragst, eine Straight-to-Video-Produktion.

K: Ach was. Straight in den Wettbewerb. Sowas interessiert die Leute. Und die ganzen wichtigen politischen Filme, die wir haben...

T: ...über dieses Fernsehpamphlet von dem Winterbottom sollten wir auch noch mal reden...

K: ...bei diesen ganzen wichtigen Filmen – natürlich sind die wichtiger, das ist doch klar -, da muss auch was Leichteres sein. Was fürs Herz, sag ich mal, was zum Mitfiebern. Und außerdem, das wissen wir doch. Die Leute kommen doch nicht nach Berlin, um Filmkunst zu sehen. Die wollen was zum Nachdenken, die wollen Politik. Dafür werde ich doch gefeiert. Der Wowi hat neulich erst...

T: Aber K. Hast du denn nicht gesehen, was der da macht? Der feiert diese Figur, ein vulgäres Mafia-Arschloch, und zwar dafür, dass er für seine miese Ganovenehre eintritt.

K: Ich finde, Ehre ist ein wichtiges Thema. War da nicht was in den Zeitungen, letztes Jahr? Wie hieß das noch? Ehrenmord? Ja, das war's. Worum ging's da noch mal?

T: Du bringst wieder alles durcheinander. Hier geht's um Ganovenehre. Dieser Typ sagt nicht aus, und deshalb kommen diese ganzen Mafia-Ärsche frei. Und der Film feiert das. Wer sowas verbricht, der hat sie doch nicht alle. Das kann man nur mit Senilität erklären, fürchte ich.

K: Blödsinn. Das ist doch alles prima. Gibt Zündstoff, gibt Diskussionen. Was will man mehr?

T: Und der Film ist handwerklich einfach schlecht. Ein Desaster, genauer gesagt.

K: Blödsinn, das kann gar nicht sein. Lumet hat letztes Jahr doch sogar den Ehren-Oscar bekommen. Der ist ein wichtiger Regisseur.

T: Der war mal sehr gut, ein Handwerker mit Botschaften...

K: Großartig! Botschaften!

T: Aber das ist zutiefst reaktionär hier! Und schlecht!

K: Reaktionär sagt der eine, revolutionär der andere. Da gehen die Meinungen schnell auseinander.

T: Aber nicht hier! Das ist Müll, das ist Schrott. Und man sollte das Lumet nicht antun, manchmal muss man Leute auch vor sich selbst schützen.

K: Den Richter fand ich aber toll.

T: Ja, der Richter ist sehr gut.

K: Na, siehst du. Und der Kleine, der ist auch gut.

T: Meinetwegen. Trotzdem funktioniert der Film hinten und vorne nicht. Er ist nicht an dem Fall interessiert, er ist nicht an der Mafia interessiert, er ist nicht am Gericht interessiert. Langweilig ist er auch, umständlich, diese ganzen Familienszenen, die Frau, die ihn im Gefängnis besucht. Das ist Klischee und dumm und funktioniert nicht.

K: Du wiederholst dich...

T: Und es ist widerlich reaktionär...

K: Ich sagte schon, du wiederholst dich. Sonst noch Einwände?

T schweigt betreten.

K: Fein, prima, abgemacht. Der kommt in den Wettbwerb. Sidney Lumet, und der, wie heißt er noch, Diesel. Das passt doch einfach alles.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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