Montag, 27. März 2006
reisetagebuch: dallas/fort worth

27.3., 9.30 am

Es gibt eine schnelle, alle zwanzig Minuten verkehrende Zugverbindung zwischen Dallas und Fort Worth. Aber nicht am Sonntag. Da fährt sie nicht seltener, sondern überhaupt nicht. Es ist ein Pendlerzug und am Sonntag ist Dallas von Fort Worth für den, der kein Auto hat, einfach abgeschnitten. Ich wollte aber gestern nach Fort Worth, weil heute die Museen geschlossen haben, und nur der Museen wegen wollte ich da hin. Amtrak kann man in diesem Zusammenhang vergessen, aber es gab eine Alternative: "Greyhound" mit immerhin vier Bussen auch am Sonntag.

Also bin ich in die Stadt gegangen, zu Fuß, auf Wegen, die kein Stadtplaner je vorgesehen hat. (Aber es kommt nicht darauf an, was die Stadtplaner vorsehen, sondern was sie zulassen.) Alles menschenleer, drei Jogger begegnen mir auf einer abgesperrten Straße, die nirgendwohin führt. Auch eine Katze. Sie schwingt sich einen Hügel hinunter, unten befindet sich das American Airlines Center, in dem die Mavericks Basketball spielen. Ich gehe hinein in die Stadt, auf einer Baustelle sind ein paar Arbeiter zugange, Mexikaner. Die Sonne scheint, es ist warm. Die "Greyhound"-Station liegt downtown. Ich betrete sie, hier ist Leben. Unter den vielleicht fünfzig Menschen hier bin ich einer der ganz wenigen Weißen. Vor mir in der Ticket-Schlange ein Hispano-Amerikaner, der mich um einen Stift bittet für das Namens-Schild, das an jedem einzucheckenden Gepäckstück zu befestigen ist. Er schreibt seinen Namen auf das Schild, zeigt es mir, sieht mich fragend an, die krakeligen Buchstaben machen klar: Er ist niemand, der mit dem Schreiben viel Übung hat.

Mein Bus fährt in drei Stunden, ich gehe zu Fuß durch die Innenstadt, die nach wie vor wie ausgestorben ist. Sie ist hübsch, gepflegt, kleine, sehr korrekt gemähte Grünflächen und Parkplätze wechseln sich ab. Im "Dallas Observer", dem alternative weekly, das man umsonst aus entsprechenden Verteilern entnehmen kann, lese ich wenig später von den Säuberungsbemühungen der Stadt. Damit einher geht die Vertreibung der Obdachlosen, in einer einschlägigen Untersuchung ist Dallas zur sixth meanest city der USA erklärt worden, weil sie alles unternimmt, den Obdachlosen das Leben schwer zu machen. Unter der I-35 gibt es ein kleines Karton-Dorf, das regelmäßig niedergewalzt wird, obwohl es unter der Autobahn wenige Nachbarn gibt, die Grund zur Beschwerde haben.

Mein Bus ist nicht einmal halb voll, als er startet. Ich bin, soviel kann ich sagen, der einzige Tourist an Bord. Die vorherrschende Farbe des Gepäcks ist, anders als auf Flughäfen, nicht schwarz. Das Gepäck ist bunt, es sind auch Tüten darunter. Der Bus hält zweimal, in einem Kaff namens Irving, in dem ich nur Schwarze und Hispanics auf den Straßen sehe. Dann in Arlington. Hier ist eine lange Schlange von der Autobahn-Ausfahrt, denn hier befindet sich, von der Straße aus zu sehen, ein riesiger Vergnügungspark, Six Flags over Texas, mit einer Achterbahnkonstruktion, die sich auf Eisenstangengespinsten zu Berg und zu Tal schwingt. Die "Greyhound"-Station in Fort Worth ist kleiner als die in Dallas, auch sie liegt downtown.

Ich mache mich auf den Weg ins Museumsquartier, das auf meiner Karte im Dumont-Führer nahe zu liegen scheint. Das täuscht. Die mindestens drei Kilometer, die ich zu gehen habe, würde auch der Europäer nur zögernd als fußläufige Entfernung bezeichnen. Natürlich sehe ich außer mir keine Fußgänger, nur ein paar Jogger in einem Park, den ich auf einer Autobrücke überquere. Es ist sonnig und warm, aber nicht heiß. Rechter Hand liegt ein riesiges Einkaufszentrum, Montgomery Plaza, ich sehe viele Autos davor, aber keine Menschen. Die Straße führt immer geradeaus und nach einer halben Stunde bin ich da. Von Louis B. Kahn stammt der Entwurf für das Kimpbell Art Museum, eine der erlesensten Privatsammlungen der USA. Es ist ein Bau von ganz makelloser funktionaler Schönheit. Dem Zweck, dem es dient, so perfekt angeschmiegt, dass es ihn gerade dadurch transzendiert. Gar nicht fotogen von außen, aber im Inneren bereitet es den Werken das mildeste natürliche Licht. Zwei Längsschlitze in der Decke, das Licht wird aber noch einmal gefiltert durch eine davor gehängte Konstruktion. Allein für George de la Tours Falschspieler lohnt der Besuch – getrennt durch einen Frans Hals hängt das Vorbild von Caravaggio gleich daneben. Die Farben bei de la Tour strahlen im natürlichen Licht von Louis B. Kahn. Daneben vieles, das Rang und Namen hat, ein wunderschöner Murillo, Rembrandt, Rubens, Velazquez, es ist alles da. Unten hängen auch atemberaubende japanische Tuschezeichnungen. Die Texte zu den Bildern sind klug. Der Eintritt ist, wie in der Menil Collection in Houston, frei. (Nicht der zur Sonderausstellung zu Gauguin und den Impressionisten, die ich mir spare.) Allerdings ist das hier nicht so aus der Welt gefallen wie das Gelände in Houston, schon weil es hier große Parkplätze gibt, weil das ein Museumsquartier ist, wie man sie an vielen Orten der Welt finden kann.

Nebenan das erst 2002 fertig gestellte Modern Art Museum, ein seltsam transparenter Traum aus Beton und Glas und Wasser von Tadao Ando. Hohe Räume, innen alles aus Beton mit regelmäßgen runden Vertiefungen, wenige Zentimeter breit und tief. Aber keineswegs der Eindruck von Schwere. Oft geht man um eine Ecke und hat überrascht einen Ausblick auf die Wasserfläche, die zur vom Eingang abgelegenen Seite hin das Gebäude umgibt. Sehr schön ist es, den Blick auf die noch nicht fertig gehängten Bilder von Chuck Close zu erhaschen, sich formende, zergehende Porträts. Gesichter, die sich ins Unklar auflösen. Saal um Saal mit den bunten, abstrakten rechteckgefüllten Rechtecken von Sean Scully. Als ich lese, dass Scully seine auf den ersten Blick immer ähnlichen Bilder an ganz unterschiedlichen Orten malt (New York, Barcelona, ein Kaff bei München mit Blick auf die Alpen), beginne ich nach Stimmungsunterschieden zu suchen und finde sie. Ein ganzer Raum (es ist viel, viel Platz hier, alles ist sehr großzügig hier) ist Nicholas Nixons Zyklus "The Brown Sisters" gewidmet, einer Fotoserie, die auf dem außerordentlich einfachen Prinzip beruht, jedes Jahr ein Foto derselben vier Schwestern zu machen, darunter die Frau des Künstlers. (Man erfährt aber nicht, welche der vier es ist.) Ich beginne mit dem ersten Bild, 1975 aufgenommen, und schreite Jahr für Jahr in die Zukunft, das heißt an die Gegenwart heran. Man kann der Zeit bei der Arbeit zusehen, dem melancholischen Blick ist es eine Arbeit der Vernichtung. (Und muss der Blick hier nicht melancholisch werden?) Jugend und Schönheit der Frauen verschwinden Zug um Zug, ein leises Vor und Zurück, aber als ich nach dreißig Jahren – das letzte Bild ist von 2005 - wieder zurückkehre zum strahlenden Anfang, bin ich den Tränen nah. Die Bilder, die das Museum angekauft hat, füllen rundum den ganzen großen leeren Saal. Da Nixon weiterarbeitet, werden sie wohl Jahr für Jahr umgehängt werden müssen, näher aneinander heran. Irgendwann wird die erste sterben. Oder der Künstler.

Ich gehe, wieder zu Fuß, die drei, vier Kilometer zurück in die Stadt. Der Platz im Zentrum von Fort Worth heißt Sundance Square, und zwar tatsächlich nach dem Westernhelden Sundance Kid. Um dieses Zentrum herum finden sich Restaurants, Läden, beinahe so etwas wie Leben; das also, was man im Zentrum all dieser großen amerikanischen Städte eigentlich nicht recht findet. Heute, am Sonntag, ist auch hier nicht sehr viel los. Bei Barnes & Noble lese ich eine ganze Weile in den Stadtführern zu Kansas City und St. Louis und freue mich darüber, dass ich mich darauf freue, diese Woche dann dort zu sein. Bei "Greyhound" wieder eine ähnliche Mischung von Kunden, ich habe diesmal einen Expressbus, der nicht hält zwischen Fort Worth und Dallas. Es ist jetzt dunkel draußen, es gibt Licht an den Plätzen, aber keiner schaltet es ein. Niemand liest, also lasse auch ich es bleiben und blicke hinaus, auf die Lichter der amerikanischen Großstädte und die Lichter dazwischen. Die Achterbahn von Six Flags over Texas ist zum Teil erleuchtet. Riesige Strahler vor zwei Auto-Geschäften, im Licht glänzt der Lack von hunderten von Autos in der texanischen Nacht. Die Wolkenkratzer von Downtown-Dallas sind mit grünen und weißen Lichtstreifen verziert, ein kugelförmiges Wahrzeichen ist bei Nacht einfach eine Kugel aus Licht. Wieder fahren wir an der Stelle des Attentats auf JFK vorbei. Keines der Taxis, die ich winke, hält an. Der Trick ist, sich vor eines der Edelhotels in der Innenstadt zu stellen. Dort halten sie an oder stehen sie bereit. Ich fahre in mein Hotel im Schatten des World Trade Center von Dallas, ich lese noch in "Krieg und Frieden" (Pierre hat gerade ein riesiges Vermögen geerbt). Mitten in der Nacht wache ich auf, weil aus einer Steckdose Radiogeräusche kommen. Das klingt verrückt, ist aber so. Ich stecke eines der drei Kopfkissen davor, der Lärm ist gedämpft. Ich quetsche meinen Kopf zwischen die zwei anderen Kopfkissen und schlafe ein, obwohl ich die Geräusche noch immer höre. Als ich aufwache, sind sie verschwunden.

 
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