Dienstag, 28. März 2006
panama

Hinausgefahren mit dem Red Train, ein Zwischending zwischen Straßen- und S-Bahn, die downtown quert und dann in die mittlere Ferne führt. An der Mockingbird Station ausgestiegen – beinahe aufs Geratewohl – und im Angelika Film Center gelandet. Daneben die Southern Methodist University, ein sehr grüner Campus, die Gebäude in einem Backstein in allen Schattierungen zwischen Rostrot und Dunkelbraun gehalten. Eine Privatuni, die sich Hoffnungen machen darf, von Präsident George W. Bush nach seinem Ausscheiden aus dem Amt die obligatorische Präsidentenbibliothek gestiftet zu bekommen. Vorne an der Mockingbird Avenue ist ein Barnes & Noble, der in seinen Regalen auch die Werke der Uni-Professoren führt. Es ist viel Belletristisches darunter. Ich schlendere durch den Gang mit den Reisführern, greife eher zufällig zu Frommers "Germany"-Führer, schlage ihn irgendwo auf und es öffnen sich die Konstanz gewidmeten Seiten.

Ich trödle ein bisschen herum, schlendere über das Uni-Gelände – das seltsam verlassen ist, dafür dass immerhin 10.000 Studenten hier eingeschrieben sind – und gehe dann ins Kino. In der Mittagsvorstellung (1 Uhr 20) sind außer mir immerhin noch sechs Besucher. Überhaupt ist im Shopping-Bereich neben dem Kino gar nicht wenig los. Wie so vieles hier ist mir das ein komplettes Rätsel. Der Film, den ich sehe, ist "Unknown White Male" und erzählt die wahre Geschichte eines Mannes, dem im F-Train nach Coney Island mit einem Mal klar wird, dass er nicht weiß, wer er ist. Er hat eine totale Amnesie erlitten, der Regisseur ist ein früherer Freund, den Doug, der Held des Films, naturgemäß auch nicht mehr erkennt. Der Regisseur macht hier viel falsch, versucht immer wieder, mit dummen Effekten die subjektive Sicht Dougs zu reproduzieren. Das ist natürlich ein Unsinn. Doug aber ist faszinierend. Im Leben zuvor ein sehr erfolgreicher Broker, jetzt aber mit heftigen philosophischen Anwandlungen. Er ist nicht sicher, ob er die Menschen, die er früher mochte, immer noch mag. (Vor allem sein Vater ist ein Problem.) Er findet sich hinein in ein neues Leben. Seine Freunde sagen, er sei nicht mehr derselbe. Er schildert seine Entzückungen über all das Neue, das ihm begegnet ist. Am Ende ist er nicht sicher, ob er sich wirklich je wieder erinnern mag.

Das West Transfer Center ist einer der beiden zentralen Bus-Umstiegsplätze von Dallas. Ich warte hier auf Bus Nummer 36, der mich zur im Reiseführer empfohlenen Highland Park Plaza bringen soll, einem Einkaufszentrum. Zwei Polizisten auf Fahrrädern stehen unter den Wartenden und beobachten aufmerksam, was geschieht. Wieder einmal bin ich der einzige Weiße. Ich denke mir, dass sich die Welten hier wirklich nicht begegnen, die Weißen in ihren protzigen Proto-Militärfahrzeugen, die Schwarzen auf den Straßen, in den Bussen, im Süden der Stadt. Wenn man Downtown Weiße sehen will, reiche Weiße, muss man sich schon vor dem Neiman Marcus-Kaufhaus – hier ist die Zentrale der Kette – an die Ampel stellen, die überqueren muss, wer ins Parkhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite will. Eine der wenigen Lichtungen, auf denen sich im Innern der Stadt dieses scheue Wild zeigt. Dann steige ich in den Bus Richtung Einkaufszentrum im Norden und komme bald aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es wird grüner und grüner und an den Straßenseiten sieht man Anwesen, für die das Wort Anwesen noch viel zu bescheiden ist. Eines ist ganz im modernistischen Stil gehalten, daneben eine Art Edel-Scheune mit sehr hoher Mauer drumrum. Und so etwas wie die Highland Park Plaza habe ich noch nicht gesehen. Ich hatte mit einer Art Mall gerechnet, aber es ist eine in Hufeisenform angelegte Shopping-Piazza. Ganz vorne gleich Chanel. Davor eine weiße Dame im sehr teuer aussehenden Kostüm, das Handy am Ohr. Alle hier sehen reich aus. Ich sehe BMWs, Porsches, Mercedes, zwischendurch ein Humvee. Am ehesten erinnert mich das in seiner abgeschottteten Eigenweltlichkeit ans Nikolaiviertel, wenngleich das hier von jedem Interesse an der Imitation von irgendwas befreit ist. Edelladen an Edelladen. Edelhausfrau neben Edelhausfrau. Alle telefonieren, alle sind bestens gekleidet. Das ganze Gelände wird von Musik beschallt, Wiener Klassik. Ich kaufe schnell etwas zu essen im Delikatessen-Supermarkt Tom Thumb. Hier sehe ich den einzigen Schwarzen, er bedient mich an der Kasse. Als ich es mit meiner Antwort aufs übliche "How are you doing today" konsterniert am gleichfalls üblichen Enthusiasmus fehlen lasse, fragt er zweimal nach.

An der Bushaltestelle vor der Plaza warten nur die Reingungskräfte. Neben mich auf eine Bank setzt sich ein hispanisch aussehender Mann. Gemeinsam beobachten wir, wie ein älterer Herr mit teurem Auto einparkt und aussteigt. Seine Frau bleibt auf dem Beifaherersitz sitzen. Er beugt sich tief in den Kofferraum und holt einen Stock heraus. Es ist kein Spazierstock, dafür ist er zu krumm und kurz. Mit dem Stock in der Hand geht der Mann davon. Die Frau bleibt sitzen. Der Mann neben mir und ich, wir blicken ihm nach, wir müssen beide lachen. So kommen wir ins Gespräch. Er stammt aus Panama, lebt seit fünf Jahren in Dallas und sucht einen Job als Kellner. Deswegen ist er in der Plaza gewesen. Wir sprechen über die Fußball-WM. Ich sage, das deutsche Team ist schlecht. "You never know", sagt er mit seinem sehr starken Akzent. Wir sprechen über deutsche Autos, VW, BMW, Audi, Mercedes zählt er auf. Er will nicht glauben, dass das Benzin bei uns viermal so teuer ist wie in den USA. Während wir sprechen, fahren fünf Jaguars, ungezählte Mercedesse und BMWs und ein Rolls Royce auf der Straße an uns vorbei. Nach ein paar Minuten kommt der ältere Herr wieder. Er hat den Stock immer noch in der Hand, er legt ihn zurück in den Kofferraum, die Frau sitzt noch immer auf dem Beifahrersitz. Der Mann aus Panama und ich, wir sehen uns an und lachen wieder. "Strange", sage ich. Er nickt, dann kommt der Bus.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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