Montag, 3. April 2006
golfball
knoerer
21:03h
Nach meiner Hotel-Absteige in Kansas City ist das Radisson Hotel in downtown St. Louis eine andere Welt. Wenn ich schräg aus dem Fenster blicke, sehe ich den riesigen metallenen Gateway Arch am Ufer des Mississippi, das 630 Fuß hohe Wahrzeichen der Stadt, das höchste von Menschenhand erbaute Monument der USA. Sagen die Reiseführer, von denen es nicht viele gibt. Ansonsten nämlich ist St. Louis an Attraktionen, die Touristen interessieren, nicht sehr reich. Downtown gibt es Stadien und Convention Center, monumentale Bauten, um die herum sich Todesstille ausbreitet, jedenfalls dann, wenn, wie jetzt, keine Spiele stattfinden. Soeben fertiggestellt wurde das neue Busch-Stadion, in dem die St. Louis Cardinals ihre Spiele austragen. (Aber war das nun Baseball oder Football?) Es wird einem hier exemplarisch klar, warum Innenstadt für downtown als Übersetzung in aller Regel ein Kategorienfehler ist. Der Zusammenhang der amerikanischen Großstadt stellt sich über das Auto her, nicht über den Fußgänger; über geplant oder zufällig entstehende kleine Zentren, zwischen denen nicht viel mehr ist als nichts. Sprawl ist das, was das Innere dieser Städte ausmacht, die immer schon mit Nicht-Stadt, wenn nicht gar mit der Sonderform von Nicht-Stadt namens Suburb durchsetzt sind. Es gehören zu dieser Organisationsform Inseln, die einem ohne jeden Kontext erscheinen, aus dem Zusammenhang der Straßen gefallen, die sie umgeben. Eine solche Insel ist die St. Louis University, auf die ich stoße, weil das Museum of Contemporary Art gerade umbaut und deshalb geschlossen ist. Eigentlich will ich nur zur nächsten Metrolink-Station (das ist die S-Bahn, die dem losen Zusammenhalt der Stadt auch keine wirkliche Form gibt, weil sie viele zentrale Punkte auslässt). Auf dem Weg dahin stoße ich, inmitten ganz unscheinbarer Straßen ohne Geschäfte, ohne Leben, ohne Menschen, auf das Fox Theatre, glamourös im alten Stil; noch diese Woche wird dort "Bombay Dreams" Premiere haben, das Bollywood-Musical von A.R. Rahman und Andrew Lloyd Webber, das in London mit großem Erfolg lief, am Broadway nicht so sehr. Nun tourt es in einer kleiner dimensionierten Version durch die Staaten und macht auch eine Weile Halt in St. Louis. Der Held übrigens wird von einem Inder zweiter Generation aus St. Louis gespielt. Unweit des Theaters dann ein monströser Bau, der sich beinahe fensterlos viel Platz nimmt, in die Breite und in die Höhe, ein finsteres Wesen ohne jede Rücksicht auf seine Umwelt: Es ist der Masonic Temple. An eine Besichtigung ist so wenig zu denken wie an die Eroberung dieses Gebäudes, dessen Inneres, denkt man sich, aus Schwärze und Geheimnis und unendlich viel Raum für die Metaphysik des Architektonischen besteht. Quer über die Straße liegt dann aber eine verzauberte Insel ganz anderer Art. Sehr grün, gekämmter Rasen, sprudelnde Brunnen und pittoreske kleine Statuetten und Denkmälchen aller Art. Die Häuser wollen hübsch sein und tun so, als seien sie alt. (Das ist in den USA immer das am leichtesten zu durchschauende Täuschungsmanöver.) Junge Menschen in kleinen Gruppen liegen in der Sonne im Gras und schlendern durch die mit großer Sorgfalt angelegten Wege. Dies ist, an allen Seiten von Torbögen begrenzt, die St. Louis University, ganz und gar eine Welt für sich. Sie hat mit allem, was sie umgibt, nicht das mindeste zu tun. Man spürt das, tritt man nur einen Schritt hinaus, auf die Grand Street, wo sofort wieder die großflächigen Parkplatzbrachen auf einen warten, die die Betretbarkeit eines Ortes für den Automenschen signalisieren. Es ist in diesen Städten – ganz anders als in New York – einfach unendlich viel Platz, weil es so etwas wie eine Strecke, die einem lang werden kann, kaum gibt. Es ist kein Problem, mit dem Auto eine halbe Stunde zum Einkaufen zu fahren. Das Art Museum von St. Louis liegt in einer Gegenwelt anderer Art, dem Forest Park. Er nimmt einen Anfang, aber kein Ende. Er liegt, hätte es Sinn, so etwas zu sagen, mitten in der Stadt. Es ist Samstag und es ist die Hölle los. Hier sind Menschen, sehr, sehr viele Menschen. Sie joggen und ich muss aufpassen, dass ich nicht umgerannt werde. Und sie spielen Golf auf einem öffentlichen Golfplatz, direkt neben den Wegen für die Fußgänger, direkt neben den parkenden Autos. Die kleinen Golfwägelchen kurven über das riesige Grün, Menschen üben Abschläge und befreien sich aus Sandbunkern, putten und visieren und es scheint ein Wunder, denke ich mir, dass hier nicht immerzu unschuldige Passanten Bälle an den Kopf bekommen und die üblichen Millionenforderungen stellen. Müsste man nicht beim Betreten des Parks ein Papier unterschreiben, in dem man von Forderungen solcher Art pauschal absieht und sich zum Spaziergang auf eigene Gefahr bereit erklärt? Ich verstehe Amerika nicht. In der hohen Lobby des Museums begrüßt dich ein monumentales Werk von Anselm Kiefer, bedeutungsschwer und unerträglich wie nur je, das helfen der Park nicht draußen, und die Sonne, und nicht St. Louis. In einem der wenigen Reiseführer, die es gibt, stand auch, es handle sich um eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Vereinigten Staaten. Wohl nicht sehr übertrieben. Es gibt einen Saal mit späten Monets und einen mit späten Beckmanns, einen mit deutschen Malern der Moderne von Kirchner bis Nolde und Macke. Unweit die amerikanische Kunst seit den Sechzigern, Warhol und Rothko, Close und Judd. Es ist alles da. Sieben wunderhübsche kleine Bilder quer durch alle Schaffensperioden von Klee sind in einen Zwischenraum mit Treppenaufgang gezwängt. Ein Cézanne, ein Van Gogh, man beginnt sich die ganze Kunst als Volk ohne Heimat vorzustellen, in der ganzen Welt anzutreffen und nirgends zuhause. Von den wenigen Verrückten abgesehen, die Kunsthistoriker sind und Reisen unternehmen nach überallhin, bekommt man sie versammelt nur bei Großausstellungen zu sehen, zu denen die Bilder und Werke wie VIPs und mit nur durch Staatsgarantieren bezahlbaren Versicherungen an einen auch wieder beliebigen Ort eingeflogen werden alle Jahrzehnte mal und sich gegenseitig grüßen wie alte Bekannte, von Tausenden begafft werden und dann geht es zurück nach, sagen wir, Kansas City oder St. Louis. Fragt ein van Gogh den anderen: Und wie ist es so in der Neuen Welt? Seufzt der: Habe neulich einen Golfball an den Kopf bekommen. Eine Sonderausstellung ist den piktorialistischen Fotografen gewidmet, die in den Jahren von circa 1890 bis zum ersten Weltkrieg alles daransetzten, die Fotografie der Kunst anzunähern. Das ist sehr buchstäblich zu verstehen, denn durch den Einsatz von sehr speziellen Edelpapieren, Farbtricks und Manipulationen auf allen Ebenen der Bildentwicklung sehen die misslungensten dieser Fotografien aus wie schlechte Amateurgemälde. Immerhin sind sie als Fotos kaum mehr zu erkennen. Der Widerwille, den ich beim Betrachten dieses Umgangs mit dem Medium habe, ist mir nicht ganz geheuer, weil es mir umgekehrt auch widerstrebt, das dokumentarische Moment der Fotografie allzu sehr zu übersteigern. Aber was die (mit einer Ausnahme) Herren hier anstellen, scheint einfach medial unsinnig, ausser da, wo es wieder eindeutige Anleihen an der Avantgarde nimmt, mit Montagen und Annäherungen an die Abstraktion. Interessant ist die Bewegung wohl genau aus Kreuzung aus Avantgarde (es gibt eine Picasso nachahmende Fotografie und ein Bild von Nijinski im apres midi d`un faune) und der reaktionären Orientierung an einer letztlich doch die Darstellung der Welt figurativ, im Zweifel idyllisch buchstabierenden, soeben überholten Malerei. Es ist sehr folgerichtig, dass der Piktorialismus keine Zukunft hatte. Die Texttafeln zur Ausstellung beschwoeren ein ums andere Mal die Schoenheit dieser Bilder. Dabei ist gerade die das Dubiose daran. Es folgt nach dem Museum eine Odyssee auf der Suche nach einem Mitbringsel für meinen Gastgeber in Chicago, einer Flasche Scotch, aber ich verzweifle darüber. In der Galleria-Mall, zu der ich mich mit die MetroLink-Verbindung ersetzenden Shuttle-Bussen irgendwann durchgeschlagen habe, gibt es keinen einzigen Laden, in dem sich dergleichen findet. Wenige Schritte weiter – na sagen wir, eine halben Kilometer, die Maßstäbe verändern sich schnell – ein weiteres Einkaufszentrum, mit Wholefoods und der kleineren, billigeren Variante des Ökomarkts Trader's Joe, mit einem Target-Supermarkt und einem großen Laden für Tierbedarf und diesem und jenem: nichts, nirgends eine Möglichkeit, Liquor zu erwerben. Der Bus fährt dann nicht von der einen Haltestelle, sondern von der anderen. Ich verpasse ihn und der nächste kommt eine Stunde später. In der Zeit schlendere ich durch die Mall, die jetzt, kurz nach sieben am Abend, während es draußen rasch dunkel wird, sehr belebt ist, in der in den Läden, die man in dieser wie jeder Mall findet, die amerikanischen Menschen ihre Kleidung kaufen und ihre Nahrung zu sich nehmen und für die Kids sündteures Spielzeug in einem der Discovery-Channel-Geschäfte erwerben. Selten habe ich mich in einer Mall so fremd gefühlt. Es ist alles unendlich vertraut und ganz weit entfernt. Wie war es so in der Neuen Welt? Habe den Bus verpasst und schreckliches Heimweh nach Europa verspürt.
|
online for 8316 Days
last updated: 26.06.12, 16:35 furl
zukunft homebase
film
auch dabei fotoserien cinema vollständig gelesene blogs
new filmkritik
aus und vorbei
darragh o'donoghue
Youre not logged in ... Login
nasal Ein Leserbrief in der
morgigen FAZ: Zum Artikel "Hans Imhoff - Meister über die...
by knoerer (17.02.09, 19:11)
live forever The loving God
who lavished such gifts on this faithful artist now takes...
by knoerer (05.02.09, 07:39)
gottesprogramm "und der Zauber seiner
eleganten Sprache, die noch die vulgärsten Einzelheiten leiblicher Existenz mit...
by knoerer (28.01.09, 11:57)
|