Mittwoch, 5. April 2006
so amtrak

Downtown Chicago hält Abstand zum See, der die Stadt im Osten begrenzt, oder auch öffnet, auf einen fernen, weiten, offenen Horizont hin. In dieser Abstandszone liegen Parks, die in der Kühle des frühen April wenig besucht sind, vor allem aber auch große, am Zentrum vorbeiführende Straßen, die überwinden muss, wer in einen der Parks gelangen will. Das neueste Projekt ist der Millennium Park, mit dem sich der lange schon regierende Bürgermeister Daley ein Denkmal gesetzt hat. Es ist, wie bei Denkmälern dieser Art üblich, außerordentlich teuer; immerhin hat die Anlage ihren Reiz, mit einem sich in kontrollierter Explosion auffaltenden Bau von Gehry zum einen, der sich – buchstäblich – in einem Kunstwerk von Anish Kapoor gespiegelt findet. Kapoors Cloud Gate, soeben erst fertiggestellt, ist eine rundum alles, was sich in seiner Nähe befindet, spiegelnde bohnenförmige Skulptur, die nur auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit einem der hässlichen Gebilde von Jeff Koons hat, die so manchen hübschen Ort so mancher ehrgeizigen Stadt verunzieren. Auf den zweiten Blick ist das Cloud Gate das perfekte Gegenstück zum Gehry-Bau, ganz konzentriertes In-Sich-Sein und In-Sich-Aufnehmen der Außenwelt. Es spiegeln sich die Wolkenkratzer von Downtown und, ebenso groß und ebenso verformt, die Menschen, die um die Skulptur herumstehen und darauf zu gehen und staunen.

Am linken Rand von Gustave Caillebottes "Paris Street; Rainy Day" gibt es eine Auflösungserscheinung. Zum Rahmen hin verschwimmt alles Figurale in einen Farbnebel und in diesem Nebel verschwindet eine Kutsche, deren Hinterteil neben einem der in diesem Bild lustwandelnden Pariser des 19. Jahrhunderts zu sehen ist und deren Vorderteil zur Linken des Mannes eigentlich wieder erscheinen müsste. Der monumentale Caillebotte überstrahlt kühl all die süßlichen Renoirs im selben Raum. (Auf einem Bild ist, mit langem, rotem Haar, der junge Jean Renoir zu sehen. Er sieht aus wie ein Mädchen.) Nach einem Besuch im "Museum of Contemporary Photography", wo ich erstmals in voller Länge das wunderbare Video "Der Lauf der Dinge" von Fischli/Weiss gesehen habe, habe ich kurz nach elf das Art Institute of Chicago betreten, um es erst zur Schließung um 16 Uhr 30 wieder zu verlassen. Es war Free Tuesday, Eintritt umsonst, von Ford gesponsort, und es wimmelte, aber in keineswegs unangenehmer Weise, von Schulklassen, denen vor ägyptischer Kunst und amerikanischem Design, französischen Impressionisten und buddhistischen Statuen, vor abstrakten Expressionisten und allerlei Kubisten die Augen übergehen sollen. Das Museum ist eine Wunderkammer mit wiederum enzyklopädischer Absicht. Hoppers "Nighthawks" sind hier, was ich nicht wusste, eine Menge van Goghs, aber auch das Bildnis des Dorian Gray von Ivan Albrecht aus dem gleichnamigen Film. Es kam mir bekannt vor, ich wusste nur erst nicht woher. Daneben hängt, auch von Albrecht, die finsterste Tür, die man sich vorstellen kann.

Gleich drei tamilische Filme von Mani Ratnam aus den achtziger Jahren mit englischen Untertiteln habe ich in einem indischen CD- und DVD-Laden auf der Devon Avenue gefunden, die im äußeren Norden der Stadt liegt und an nichts so sehr erinnert wie an Little India und die daran angrenzenden Straßen in Queens, New York. Man ist, betritt man diese Zone, nicht mehr in den USA, sondern in einem unbestimmbaren Anderswo, das dezidierte Anleihen am Indischen nimmt. Die Devon Avenue ist sehr lang und auf mehr als einem Kilometer reihen sichh indische Restaurants, Lebensmittelmärkte, Sari-Boutiquen und DVD-Shops mit exzellenter Auswahl. Von dem auf meine Nachfragen hin zusehends freundlicher werdenden älteren Herren werden mir auch zwei Telugu-Filme empfohlen; selten habe ich die Werke in dieser Sprache bisher mit englisch untertitelt gefunden. Irgendwann, fast unmerklich erst, verwandelt sich Indien in Arabien erst, daran schließt sich ein jüdischer Teil an. In einem Schaufenster hängt ein Plakat, auf dem der Ladenbesitzer sein koscheres Sushi preist. Sehr viele Straßen in Chicago haben nicht nur einen Namen, sondern ehrenhalber, auf einem braunen statt der üblichen grünen Schilder, angezeigt, einen zweiten. Man erspart sich so offenbar Umbenennungen (ich sage nur Dutschke-Straße in Berlin) und ehrt doch verdiente Menschen. Hier auf der Devon Avenue stoßen an einer Kreuzung die "Honorary Golda Meir Street" und die "Honorary Mother Theresa Street" in freundlicher Koexistenz aufeinander.

Die University of Chicago, in deren unmittelbarer Nähe im südlichen Bezirk Hyde Park ich hier bei überaus reizenden und gastfreundlichen Menschen untergekommen bin, hat das ambitionierteste Uni-Kinoprogramm, das mir je begegnet ist. An jedem Abend läuft ein Film aus einer der sieben Reihen, aus denen das Programm besteht. Ich sehen Martin Ritts "Hombre" von 1967 (Reihe "Conscious Western"), die Verfilmung eines Romans von Elmore Leonard. In Austin noch habe ich, um das endlich mal zu tun, einen Western von Leonard gelesen, "Valdez is Coming", der mir sehr gefiel. Sehr elegant durchgezogene Geschichte um eine Art Wiedergutmachung (und eine Art Rache), die einem die Sympathie mit dem Helden so wenig aufnötigt wie es nun auch "Hombre" tut, der Film, in dem Paul Newman dieser Held ist, der kaum etwas sagt und kaum eine Miene verzieht, der dennoch in einer Situation, in der er es nicht müsste, das Richtige tut und es kostet ihn das Leben. Lakonische Wort- und Blickwechsel, keinerlei Heroismus, auch Martin Ritt macht nichts verkehrt. Ausgesprochenes Pech habe ich mit der Luc-Moullet-Retrospektive, die gerade anläuft. Der erste von acht Filmen wird am Abend vor meiner Ankunft und am Abend nach meiner Abfahrt gezeigt. Dazwischen ist nichts, auch die Einführung in Moullets Werk durch Jonathan Rosenbaum hätte ich mir gerne angehört. (Es findet sich aber ein Text von Rosenbaum im aktuellen Chicago Reader, der das umsonsst ausliegende alternative weekly der Stadt ist und, anders als die mir bisher begegneten Stadtmagazine, ziemlich auf dem selben Niveau wie, aber umfangreicher als, die New Yorker Village Voice.)

Das Wetter in der Windy City war erst sehr abweisend, dann wurde es freundlich. Mit J. & J. war ich gestern Abend auf einem Konzert von "Devil in the Woodpile", die es mit ihrem sehr relaxten, virtuos handgemachten Retro-Südstaaten-Jazz bis in meinen Time-Out-Stadtführer geschafft haben. In der Nacht sieht der Sears-Tower, das höchste Gebäude der Stadt, aber nicht mehr der Welt, beinahe aus wie ein riesiger Kirchturm. Und demnächst wird in weiß, sich verwindend, nach einem Entwurf von Calatrava, einer der – dem Modell nach zu urteilen – schönsten Wolkenkratzer der Welt, den Sears Tower übertreffen. Von hier nach Minneapolis sind es acht Stunden mit dem Zug, wenn Amtrak hält, was es verspricht. Denn von St. Louis nach Chicago landete ich verblüfft in einem ersatzweise fahrenden, aber keineswegs vorher angekündigten Bus, der dann prompt eine Stunde zu früh ankam. "This is so Amtrak", sagte J.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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