Samstag, 8. April 2006
eher kubistisch als post-explosiv

In anderer, gar fremder Leute laufender Leben zu platzen, ist eine großartige Erfahrung, gerade wenn man nur kurz da ist. Alles geht weiter und freie Minuten gelten dem Gast, ohne dass der Alltag aufgegeben würde. In Chicago habe ich im Wohnzimmer meiner Gastgeber geschlafen, in dem auch einer der Computer steht. Die Couch wird ausgeklappt und ich bin da und klappe sie zurück am Tag und verschwinde am Tag und kehre zurück am Abend und werde als Selbstverständlichkeit behandelt. Sehr schön ist es, dass die beiden in meiner Gegenwart auch miteinander sprechen, ohne dabei mit mir zu reden; es gibt eine Höflichkeit des Selbstverständlichen daran, die mich sehr rührt. Ich bin Gast, ohne groß als Gast behandelt zu werden. Sie kennen mich gar nicht, aber vertrauen mir ganz.

Spät in der Nacht, hier, in Minneapolis, sehe ich mit R. und V. noch die Aufzeichnung vom ersten Viertel der Detroit Pistons gegen Miami Heat und werde nebenbei in die Feinheiten der amerikanischen Basketball-Szenerie eingewiesen. Ich empfinde jetzt, glaube ich, so weit die richtigen Sympathien. Die Pistons sind eine Mannschaft ohne großmäulige Stars, die nach Körben gieren, sie spielen als Team und werden hoffentlich Meister. (Derzeit sieht es gut aus.) Zuvor habe ich mir mit R. die Keynote zu einer Graduiertenkonferenz angehört von einer Professorin, die erzählt, dass die Rechte an ihrer Uni sie lächerlich machen will, weil sie Seminare über das Menschliche und das Hündische anbietet. "Facing Shame" heißt der Vortrag und es geht auch gegen Bush; wir sollten lernen, mit unserer Scham umzugehen und wir lernen das in einem Ausschnitt aus dem Faßbinder-Film "In einem Jahr mit 13 Monden". Vor dem Vortrag treffen wir A., den ich nicht kenne, aber von J., der mein Gastgeber in Chicago war, grüßen soll. Ich grüße und er freut sich. Die Graduiertenkonferenz ist eine Graduiertenkonferenz, alle haben allen viel zu beweisen. (Nicht dass gewöhnliche Konferenzen sehr viel anders funktionieren. Habe gerade auch einen großartigen Text von R. gelesen, über die Dubrovnik-Kolloquien unter Leitung von Hans-Ulrich Gumbrecht, einst in den Achtzigern.)

Das Kunstmuseum in Minneapolis ist das übliche Best-of und die Abteilung, die das Post-Impressionistische zeigt, ist gerade geschlossen. Ich sehe noch einen Caillebotte (ein Akt auf der Couch mit einem Modell, mit dem er dann ein Verhältnis hatte. Oder er hat sie geheiratet, das weiß ich gerade nicht mehr so genau.) Als erste suche ich jetzt immer die China-Abteilung auf, wegen der literati-Landschaften der späten Ming- und frühen Qing-Periode. Davon gibt es aber leider nicht sehr viel hier. Vom Museum geht es nach Downtown, die Nicolett Avenue hinunter, die Eat Street, tatsächlich ein Restaurant neben dem anderen, noch vor ein paar Jahren war das ganz anders, wird mir V. sagen. Hinein in die Innenstadt und die Avenue wird zu einer Art Fußgängerzone. Es ist beinahe wie Europa und sogar wärmer als prophezeit, denn in Minneapolis ist, von Kanada her, eigentlich sehr lange Winter und darum haben sie in der ganzen Innenstadt diese Skyways gebaut, eine zweite Stadt, nach innen gestülpt. Über die Straßen führen verglaste Wege von Hochhaus zu Hochhaus und darinnen dann weiter, um Ecken und Ecken; offen liegen die Banken da, die in den Häusern ihre Geschäfte abwickeln, überall Fast Food und auch Edleres und Geschäfte aller Art, sogar der Zugang zum Barnes & Noble über diese Innenwelt. Es ist belebt und keineswegs nur sind hier Geschäftsleute unterwegs. Einmal im Jahr gibt es, wird V. später erzählen, ein Radrennen durch die Skywalks. Ich stelle mir vor, ich stehe draußen und blicke hinein ins Glasgehege, das über die Straße führt und es flitzen die Radler auf ihren Rennrädern durch.

Es wird dunkler und dann legt der Regen los, ganz heftig, R. zeigt mir noch dies und das, den Uni-Campus vor allem, der den Mississippi quert und der Fußgängerweg hat in der Mitte gleichfalls eine Art Skywalk, der an den Langen Jammer in Friedrichshain erinnert, den es aber nicht mehr gibt. Nur blickt man nicht auf das zur Stadtbrache gewordene ehemalige Schlachthofgelände, sondern auf den großen Fluss, der ziemlich tief unten mächtig dahinfließt, ein paar Hundert Meter hinter einem imposanten Wasserfall im einstigen Mühlenviertel, das gerade umgebaut wird. In dunklem Blau steht dort – im Mühlenvierte – jetzt ein neuer Theaterbau von Jean Nouvel, wie ein Sprungbrett ragt ein Steg hinaus, auf den Mississippi zu und trotzt, blau und beherzt, der Schwerkraft. Nach der Führung über den Campus gehen wir zurück über den Skywalk über den Fluss und in den von Gehry entworfenen, eher kubistisch als post-explosiv anmutenden Bau, in dem gleich die Keynote zur Graduiertenkonferenz beginnt. Wie Sie merken, ist die Chronologie jetzt durcheinander.

Das Walker Arts Center ist das MoMA von Minneapolis, mit ambitioniertem Programm und einem erst im letzten Jahr eingeweihten Anbau von Herzog-De Meuron, der in kleine Rechtecke einer Außenhaut gekleidet ist, die aussieht wie silberner, leicht gewellter Stoff. Es gibt Scheußlichkeiten von Kiki Smith, pompejanisch gekrümmte Leiber an Wänden und auf Fußböden, Körper-Kunst der unerquicklichen Art. Abends läuft im Kino des Walker gerade die "Selling Democracy"-Reihe, die nach der Premiere bei der Berlinale jetzt auf US-Tour ist und in Minneapolis Station macht. Es sind Propaganda-Filme, die von Geldern des Marshall-Plans finanziert werden, aber von Regisseuren der einzelnen Länder produziert wurden. Die Serie mit den offen antikommunistischen Sachen läuft heute Abend erst, aber da sitze ich schon im Flugzeug nach Baltimore, und das ist schade, denn R. wird die Filme hinterher kommentieren. Dafür haben wir eine Dose Milchpulver kennengelernt, die als Ich-Erzähler berichtet, wie sie wurde, was sie ist. Das ist sehr lustig, denn sie informiert uns auch über ihr Schmerzempfinden (Pasteurisierung) und ihre Lust (beim Runterkühlen). In einem anderen Film, in dem es um ganz anderes geht, wird eine Maus verschüttet und wühlt sich wieder ans Licht. Das gibt Szenenapplaus im sehr zahlreichen Publikum, in dem sich viele ältere Menschen finden. Schwer erträglich ist die Kuratorin, Frau Schulberg, deren Vater damals für das Marshall-Plan-Filmprogramm mitverantwortlich war. Auch ihr Bezug zum Thema ist offenkundig, denn die sehr lange Kurzbiografie im Programmfaltblatt teilt mit: "She was conceived during the Berlin Blockade." (Die genaueren Umstände bleiben uns erspart.)

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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