Dienstag, 11. April 2006
es zwitschern die ratten

"Citypaper", das alt-weekly von Baltimore, bietet jede Woche den "Murder Ink", die kurz kommentierte Liste der jeweils gewaltsam zu Tode Gekommenen. Natürlich sind sie fast alle schwarz und unter dreißig. Ein beliebiger Eintrag:

Thursday, March 30, 3 p.m. Victor Richards, a 23-year-old African-American man, was standing in the 1300 block of Montford Avenue in the Broadway East neighborhood when a man came up to him and shot him several times. He died an hour later at Johns Hopkins hospital. This is the fourth murder in Broadway East this year.

Vier Morde listet der Murder Mix für die letzte Woche, oft sind es mehr, Baltimore hat eine der höchsten Kriminalitätsraten der USA. Zwar gibt es die Ghettos, auf die sich das konzentriert, aber eine gewisse Grundgefährlichkeit diffundiert in die meisten Gegenden der Stadt. Ilchester Street, wo ich untergekommen bin, macht einen halbwegs sicheren Eindruck, aber nur zwei Straßen weiter sieht man neben den üblichen Porches hier und den schmutzigen und rattenverseuchten Back Alleys mit Brettern vernagelte Türen und Fenster und nur wenige Menschen auf der Straße, darunter so gut wie keine Weißen mehr. Nach dem skandinavisch-freundlichen Minneapolis ist der Kontrast noch stärker spürbar: überall Schmutz und Müll, nur dass gerade der Frühling ausgebrochen ist und die Bäume beginnen zu grünen, manche Sträucher zu blühen.

Vorgestern hat mich A., nachdem er mich am Samstag Abend vom Flughafen abholte, wo der schon am Mittag als verspätet gemeldete Flug aus Atlanta dann doch nicht verspätet war (vgl. dazu textmarkerfiles 4/8/2006), durch Baltimore geführt. Von hier – ich sage mal: - oben, 28. Straße, in der Nähe des Johns-Hopkins-Campus und durchs – ich sage mal: - Künstlerviertel Hampden, wo wir für wenig Geld eine kleine Bar fürs Wohnzimmer mit drei Stühlen hätten kaufen können, nach unten, wo die Stadt ihr Gesicht und ihren Geruch und das Gefühl, das man hat für den Ort, an dem man ist, immerzu verändert. Es endet alles am Inner Harbor, der eine disneyfizierte Wohlfühlgegend ist, für die Massen an Touristen jedenfalls, die man hier findet, am Wasser, am Segelschiff, das mit stolzgeschwellter Takelage nichts tut, an den rausgeputzten Speicherfassaden. Wir setzen uns dann ins Café Bonaparte, dessen – ich sage mal: - Chefin einen beachtlichen französischen Akzent kultiviert vor der Schlacht von Wagram, die als Stich an der Wand hängt, neben allerlei anderem Napoleonischen. Wir sitzen am Tisch und sprechen über R.C. und B.V. und A.H. und wenige Minuten später kommen alle drei durch die Tür, was insofern erstaunlich ist, als A.H. mein Doktorvater aus Frankfurt (Oder) ist und ich ihn jetzt hier nicht unbedingt erwartet hätte. (Es gibt aber eine Erklärung, die die Unwahrscheinlichkeit des Ganzen beträchtlich mindert.)

Erstmals bin ich etwas müde und habe keine große Lust mehr auf die eigenhändige Exploration der Stadt; es hat auch damit zu tun, dass ich wohl den Herbst hier verbringen werde, da lässt sich vieles gut aufschieben. Es hat auch damit zu tun, dass die Universität und das an sie anschließende Charlesville den Eindruck machen, vom Rest der Stadt gut separierbar zu sein. Ich gehe zum Campus, trinke einen Cappuccino, sehe den unzähligen Führungen zu, bei denen Studenten höherer Semester rückwärts gehend Gruppen zukünftiger Undergrads die Vorzüge der Universität erläutern. (Mit den Medizinern, für die die Uni berühmt ist, hat man hier allerdings wenig zu tun; die haben einen eigenen Campus woanders, in einer sehr bedenklichen Gegend der Stadt, sagt A., der mir auch von zwei Morden an Undergraduates berichtet. Seither steckt man mehr Geld in die Sicherheit, das Security-Personal ist in der Tat präsent und nicht nur am German department bekommt man die Umverteilungsmaßnahmen im Budget zu spüren.) Dann gehe ich wieder zurück, den selben Weg, oder durch eine Parallelstraße, genieße die Sonne und die Wärme, die bleiben sollen, sagt der Wetterbericht, lese ein bisschen und surfe ein bisschen durchs Netz und plane den Rest der Reise.

Bei tripadvisor.com habe ich Erstaunliches über Hostels in New York gelesen (hier die Seite mit dem Link zu candid traveler fotos von bedbug-Spätfolgen vom Whitehouse hostel, in dem ich zunächst für drei Nächte reserviert hatte; not for the faint of heart) und dann in den zweien reserviert, die am besten klangen. Gestern aber eine Mail von Z., der mir eine Unterkunft bei Freunden in Park Slope, Brooklyn vermitteln kann. Aber diese Mail bringt mich auf die Idee, einmal nachzusehen, wo eigentlich Providence liegt, der Ort, an dem er unterrichtet. Stellt sich heraus, der Zug oder Bus fährt da hin von New York und braucht kaum mehr als drei Stunden. So beschließe ich, diesen letzten Schlenker noch zu machen vor der Rückkehr nach Austin in knapp zwei Wochen, von A. bis Z. die Menschen hier zu besuchen, die ich aus Konstanz kenne und Frankfurt (Oder) – oder es stellt sich heraus, wie im Fall von J. in Chicago, dass eine Freundin aus Konstanz den Kontakt herstellt und er war während des Studiums in Frankfurt (Oder), wo wir uns, im Jahr 1996, hätten über den Weg laufen können zwischen Oderturm und Kellenspring; oder wo wir uns, genauer gesagt, ganz gewiss über den Weg gelaufen sind, ohne zu wissen, dass wir uns erst zehn Jahre später in Hyde Park, Chicago tatsächlich begegnen würden.

Sie fragen mich nach der Maus (vgl. textmarkerfiles)? Heute Nacht, so viel kann ich sagen, hat es verdächtig geraschelt. Zu Kunststücken kam es nicht. Die Erdnussbutter wurde nicht angerührt. Das andere Geräusch, das man nachts um zwei hört, sind nicht, wie ich im Halbschlaf erst dachte, die allzu früh erwachten Vögel, es zwitschern die Ratten da draußen, lange bevor der erste Streif des Morgens am Himmel zu sehen ist.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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