Montag, 24. April 2006
sin

Am frühen Abend, bei tief stehender Sonne, durch puren Zufall beim Schlendern durch Williamsburg bin ich ans Ufer des East River gelangt. Zwischen all den verlassenen, stacheldrahtgegürteten, niedrigen Industriegebäuden am Ufer gibt es diese eine Schneise mit Felsen, zwischen denen die Ratten wimmeln, mit Bänken, auf denen die Menschen sitzen. Erst sind es recht wenige Menschen, dann werden es immer mehr. Sie genießen die Wärme, das Licht auf dem Wasser, im Schatten der Williamsburg-Bridge. Hysterisches Geschrei gelegentlich aus der Gruppe der Hispano-Teenies auf ihren Rädern, kein Wort zu hören von der orthodoxen jüdischen Familie auf der Bank in ihrer von Schwarz durchsetzen Kleidung. Das jüdische Viertel liegt etwas südlich von dieser Stelle, für diesen Ausflug muss die Familie durch Straßenbrache. Ich sah sie kommen, als ich mich näherte, die beiden Mädchen hielten sich an der Hand. Aber es gibt auch Liebespaare auf den Felsen, zwischen denen die Ratten wimmeln und die jungen Künstler oder Möchtegern-Künstler aus Williamsburg. Zwei Männer mit Fotoapparaten, einer klettert wagemutig zwischen den Steinen, auf der Suche nach dem Bild, das dem Klischee entginge. Das ist schwer zu finden, denn gegenüber liegt Manhattan und beinahe ist es schon schwer, das zu erleben, was man erlebt, hier in dieser Schneise am Ufer hinter den Industriegebäuden, weil es sich ein bisschen so anfühlt, als sei man aus Versehen in eine große New-York-Postkarte geraten.

Nun passiert einem das allerdings oft in New York. Ich bin gestern einfach so nur, mich von der Edvard-Munch-Schlange vor dem MoMA abwendend, durch die Stadt gefahren und gegangen, hinauf nach Washington Heights, in die Dominikanische Republik von Manhatten, mit dem Bus wieder hinunter, durch Harlem, dann in die Fifth Avenue am Central Park hinein. Ich stieg aus und stieß auf der Lexington Avenue wie stets noch, wenn ich da aussteige, auf junge Frauen mit kleinen Rudeln Hunden an der Leine. Sehr überraschend dagegen, am Abend davor, der Spaziergang mit Gary durch die Nachbarschaft hinter Prospect Park. Erst die große Coney Island Avenue hinunter, archetypische New-York-Straße mit rasch sich einstellenden hispanischen, dann pakistanischen, gelegentlich auch jüdischen Läden, große Betriebsamkeit, vorbeirauschender Verkehr. Nur eine Parallelstraße weiter aber beginnt etwas völlig Anderes, beinahe stattliche Häuser, zwei Stockwerke meist, mit Veranda davor und kleinem Garten. Auf der Straße kein Mensch und kein Auto, aber Bäume und das Gefühl, man ist aus der Stadt gefallen, eine paar Schritte nur und eine andere Welt.

Ich werde, wegen meines Ausflugs nach Providence, heute und morgen Abend das große Flarf-Treffen verpassen. Flarf ist eine Gruppe von Dichtern, zu denen Gary gehört. Er erklärt mir die literaturgeschichtliche Genealogie, von Gertrude Stein über die language poets, auf der Postkarte sehe ich, dass auch das Ontological-Hysterical Theater dabei ist, die Truppe der Theaterikone Richard Foreman. (Ich war sechs Tage zu spät in der Stadt, für "Zomboid", das jüngste Stück, die Plakate hängen noch am Zaun der St. Marks Church im East Village, Foremans Spielstätte seit vielen Jahren.) Am Abend hat er mir aber den Flarf-Film gezeigt, den ein Freund, Brandon Downing, gemacht. Es gibt darin betörende Szenen aus Bollywood-Filmen, aber er hat an den Untertiteln gedreht, und es gibt behäbig durchs Wasser ziehende Riesenkraken und einen uralte Mann in einem schwarz-weißen Film mit womöglich dem ganz jungen James Stewart.

Die Fahrt mit dem Greyhound-Bus von New York nach Providence ist spottbillig. Allerdings dauert sie lange, deshalb vor allem, weil der Bus zwei Schlenker macht durch Indianerreservate, der Mohegans und der Pequots, von denen man freilich nichts zu sehen bekommt als je ein Kasino. Konfrontiert ist man inmitten das Auge und Raumgefühl durch Natur und Hügel erfreuender Neuengland-Landschaft mit Hotel- und Parkplatzanlagen im Nirgendwo. Mohegan ragt gläsern und postmodern in die Höhe, mit Convention Center und Bussen auf betonierten Flächen mitten im Wald. Das eigentliche Kasino ist mit dem bloßen Auge des Touristen nicht auszumachen, die Logik von Ort und Hotel legt nahe, dass Menschen aus Städten mit dem Bus und dem Auto hierher fahren für ein paar Tage, ein Wochenende und spielen, bis es vorbei ist mit dem Geld. In den auf Fahnen am Straßenrand für sich werbenden tendenziell edlen Läden wiederum wird man auch das Geld los, das man gewinnt. Auf der Rückfahrt steigt im Foxwood-Casino ein nur ganz leicht irre wirkender Mann ein, der sich normal benimmt, bis der Bus von der Bronx her nach New York hineinfährt. Hier beginnt der Mann, laut und immer lauter, schnell und immer schneller mit sich zu reden, in einer Sprache, die nicht identifizierbar ist. Ein anderer Gast lässt sich ein auf ein Gespräch mit ihm und bekommt auf seine kurzen Einwürfe diese Schwälle aus Gebrüll und rasant ausbleibendem Sinn zurück wie Eimer auf Eimer mit Wasser. Er gibt es bald auf. Als wir in der 42. Straße ankommen, hat der Irre in der letzten Reihe komplett die Kontrolle über sich verloren; zum Glück schlägt er bis zuletzt nur mit sich überschlagenden Worten um sich.

Providence ist um die Verschönerung von downtown bemüht. Eingefriedete Grünflächen mit Brownstone-Gebäuden, es fehlen nur ein bisschen noch die Menschen auf den Straßen. Eine riesige Mall hat man gebaut, architektonisch, nun ja, abwechslungsreich, aber mitten in die Stadt. Die Kids, erzählt Z., kommen nun aus den Vororten hierher, beinahe möchte ich das für einen genialen Schachzug halten und erinnere mich an den halbherzigen und komplett gescheiterten Versuch in St. Louis, eine Mall ins Zentrum zu setzen. Übrig sind dort nur die Sonnenbrillen- und Andenkenparasiten. Die Rolltreppen stehen still und man verliert sich zu sinistrer Muzak auf den leeren Fluren. Im Foodcourt hat einzig ein Asiate noch nicht aufgegeben und reicht mir freudestrahlend eine große Portion frittierte Panade mit behauptetem Fisch. Die Mall von Providence aber funktioniert, wie es scheint. Überhaupt ist Providence hübsch und überschaubar, das Flussufer hat man begrünt und mit Wegen versehen, auf denen man spazieren könnte. Als "traditionelles Fest" hat man vor wenigen Jahren das "Waterfire" erfunden, mit Feuern auf dem Fluss, es ist, wie Z. Versichert, ein voller Erfolg. In vielen der Städte, die ich besucht haben, waren solche Anstrengungen zur Rückeroberung der Downtown zu beobachten.

Nur für die Nacht bin ich zurück in New York und fahre gleich nach der Ankunft zum YMCA in Flushing, am äußeren Ende der Subway-Linie 7 in Queens. Vor zwei Jahren war ich in Jackson Heights, dem Little India von New York mit sich daran anschließender hispanischer Meile, auf halber Strecke nach Flushing gelegen. Ich steige aus und bin in Asien. Genauer lässt es sich nicht sagen, denn neben China sind auch Japan und Korea präsent, wenn nicht noch viel mehr Nationen, deren Schriften und Zeichen ich nur nicht erkenne. Ein Sushi-Laden, der gerade Feierabend macht, verkauft die letzten Waren zum Spottpreis. (Ich greife zu.) In der Union Street, nach links weg von Main Street, reihen sich Restaurants an-, ja türmen sich aufeinander. Ein kunterbuntes Durcheinander von Schriften, die ich nicht lesen kann. Es ist noch reger Betrieb, abends um halb zehn. Wie so oft in New York bin ich ganz Auge und Staunen. Aber auch recht müde und checke bald ein im YMCA, das etwa so schlecht riecht wie das Cherry Street Inn in Kansas City. Auch hier brummt ein Kühlschrank. Das Zimmer ist eine Zelle, nebenan hustet und röchelt ein Mann, als läge er im Sterben. Ich schlafe sogleich ein.

Sehr empfehlen kann ich die Billigfluglinie JetBlue. Für siebzig Dollar bringt sie mich von New York zurück nach Austin. Vor dem Start steht der Pilot im Gang, beweist Entertainer-Qualitäten und freut sich sehr, dass wir alle an Bord sind. Das Personal ist locker, aber nicht von der Sorte Prozac-Amerikaner. Im Vordersitz ist ein Bildschirm und man sieht Live-TV. Neueste Filme von Fox könnte ich mir ansehen, für fünf Dollar, gleich neben dem Fernseher im Vordersitz ist der Kreditkartenschlitz. Ich sehe eine sehr schlagfertige Madonna auf BBC America und Teile eines Soccer-Matches zwischen den Mannschaften von Washington und New York auf ESPN 2. Auf dem Feld sind die nur leise verwischten Football-Markierungen zu erkennen, in einer der Mannschaften spielt Djorkaeff. Eine halbe Stunde zu früh bin ich zurück in Austin, wo mich S. und W. abholen. W. kocht für uns, es ist ein sehr schöner Abend. Letzte Woche hatte es in Austin erstmals in diesem Jahr über 100 Grad Fahrenheit. Ich fahre am Sonntag ein letztes Mal in die Stadt. Vor dem Kapitol steht ein Mann in Bermuda-Shorts mit Mikrofon, zwischen Lautsprechern, und hält eine engagierte Rede. Zur Rechten und zur Linken die amerikanische und die israelische Flagge. Niemand ist da. Keiner hört ihm zu. Im Vorbeifahren glaube ich das Wort "sin" zu verstehen. Jetzt sitze ich im Flughafen, mein Flug geht zwei Stunden später als gedacht und ich denke mir, dass von allen Städten, in denen ich auf Dauer dann vielleicht doch nicht leben möchte, Austin die nettest mögliche ist.

 
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