Samstag, 21. Oktober 2006
baltimore im herbst

Auf dem Tennisplatz wärmen die Spieler sich auf in der Morgensonne von Baltimore. Ich sitze am Fenster und schreibe, im 11. Stock des Hauses, in dem mein Apartment liegt, im höchsten Stockwerk, fast auf dem Dach. Und was heißt fast, denn die große Terrasse mit dem Kamin darin, der mir zum Glück weit über den Kopf ragt, ist im Grunde Dach. Zu meinen Füßen das Stadion, in dem mit Fang- und Wurfnetzen an Stöcken weiße Kids Lacrosse spielen und im Lacrosse-Spiel die Verbundenheit mit den Ureinwohnern Amerikas fühlen, denen die Erfindung dieses Spiels, das sie vermutlich heute nicht mehr spielen, zugeschrieben wird. Zu meinen Füßen das Baseball-Übungsgelände, mit einem runden Kreis aus Sand im Rasen und einem geometrisch weniger wohlgeformten halben Bogen aus Sand diesem Kreis gegenüber. Die Stelle, von der aus der Werfer wirft, ein weiterer kleiner Kreis aus Sand, ist gerade von blauer Plane bedeckt. Noch die Steine, die die Plane beschweren, kann ich von hier oben am Fesnter erkennen. Mein Blick geht auf den Campus der Johns Hopkins Universität und die Gauben und Türme der Gebäude, in denen Eliten sich Elitegedanken machen zur Verbesserung der Welt durch Fortschritt in das Handeln von morgen anleitendem Forschen. Mein Blick geht über in erstaunlicher Geschwindigkeit gelblich und gelb, orange und rötlich in allen Schattierungen sich färbende Bäume dahin auf die Wolkenkratzersilhouette von Downtown und dahin auf den Ausläufer der Bucht von Chesapeake, die Baltimore zur Hafenstadt gemacht hat. Seit die besten, ja guten Zeiten dieses Hafens vorbei sind, hat die Stadt zu kämpfen und kämpft die Stadt. Sie ist arm und das Leben ist durch Armut gefährlich, weil der Kampf der Armen ums Leben für viele tödlich ist. Armut und Gefahr sind, wenngleich fast ausschließlich Schwarze Schwarze töten, weniger segregiert als in anderen Städten der USA. Von einem Block zum andern gerät man als einer, der etwas zu fürchten hat, von Sicherheit in Gefahr. Dies potenzielle Geraten, die Unsicherheit der Grenze, machen noch die Sicherheit unsicher und das Leben und das Sich-Bewegen in der Stadt zum Risiko, das man fühlt, weil man darum weiß. Es ist zudem mehr als Einbildung, denn schon der Wechsel, von Block zu Block, zwischen grünem Rasen vor großen Häusern zu vernagelten Fenstern und herabhängenden Dachrinnen, von der gähnenden Leere des Reichtums, der in seinen Häusern und Autos sich verschanzt, zur Belebtheit der Straßen, die sich der Enge der schmalen Häuschen und der Menge der Menschen darin verdankt, drängte sich dem Körper als Empfindung von Raum und Umgebung auf, selbst wenn man nicht hinsähe. Freilich sitze ich im 11. Stock meines Hauses und werfe Eliteblicke und mache mir geschützte Gedanken und weiß sehr wohl um das Privileg meines Blickens und Denkens und kann nur staunen darüber, dass es mir gewährt ist.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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