Samstag, 30. Dezember 2006
joseph wohnt nicht mehr hier

Geteerte Straßen, Kreisverkehr? So sah das nicht aus im Valle Gran Rey vor fünfzehn Jahren. Gut, die Erinnerung ist diffus. Die Bananenplantagen, die gab es schon, das weiß ich noch genau, es waren die ersten Bananenplantagenn, die ich je gesehen habe. Auch die letzten; bis jetzt natürlich. Jetzt wieder, wieder im Valle Gran Rey, wie vor fünfzehn Jahren. Damals die Idee nach dem Zivildienst, mit dem Zivildienstkollegen, mit dem ich beim Zivildienst viel Schach gespielt habe und Behinderte in gemeinsamer Anstrengung aufs Klo gesetzt, eine Reise zu machen, als offizieller Abschluss sozusagen. Eine billige Reise, weil Geld hatten wir ja keins. Oder schon ein bisschen, es gab, wenn ich mich da jetzt wieder recht erinnere, sowas wie ein Abschiedsgeld nach dem Zivildienst. Wir haben fast die ganze Nacht auf dem Flughafen Tegel gewartet, im Morgengrauen ging das Flugzeug damals. Diesmal war es auch früh dran. 6 Uhr 35, aber für den Urlaub steht man doch gerne um vier Uhr auf. Und heute musste ich nicht extra nach Berlin fahren, von Nürnberg aus. Heute lebe ich in Berlin. Naja, gelegentlich. Ab sofort aber wieder richtig. Damals fuhren wir am Abend von Nürnberg nach Berlin, das war 1991 und noch ziemlich aufregend. Erstmals in der Hauptstadt ohne Mauer, aber davon haben wir zunächst nicht viel gesehen, denn wir sind bald zum Flughafen Tegel gefahren, mit dem Bus nehme ich an, aber ich weiß das nicht mehr. Heute macht Air Berlin einen Zwischenstopp in Nürnberg, ein wenig verdreht ist das schon alles, dann fliegen wir nach Teneriffa Süd. Es ist ein Ferienflieger. Die Leute klatschen nach der Landung. Von manchen Dingen von damals weiß ich heute ganz genau, dass ich sie nicht mehr weiß. Bei anderen bin ich unsicher. Gab es diese Teerstraße schon, die links weg, wenn man nach Valle Gran Rey kommt, zum Strand führt? Oder war sie ein Sandweg? Das Restaurant war schon da, in den Bananenplantagen. Aber damals war es draußen. Vor dem Inneren des Dorfes. Heute scheint es fast dazuzugehören. Vielleicht kann man noch sagen: Es liegt am Rande des Dorfes. Des Unterdorfes. Denn weiter oben am Hang ist jetzt ein Oberdorf. Ich glaube nicht, dass es das damals schon gab. Ich erinnere ich mich an krumme Häuschen von Aussteigern an der Straße ins Tals rein. Das war schon sehr aufregend, die Vorstellung, dass einer aussteigt, sein Leben abbricht, hier hinzieht und nun vom Verkauf von Hippiekram an mit Hippies sympathisierende Möchtegernhippietouristen lebt. Ich fand das sehr aufregend damals. Aber ich erkenne das alles gar nicht wieder. Mich auch nicht so recht. Oder schon ein bisschen, aber ich kann nicht umhin zu denken, dass ich damals eventuell noch recht jung war. Und dann mein erster Gedanke, nach der mehr als einstündigen Fahrt über die Insel, die sehr gebirgig ist: So sah das damals nicht aus. Ich habe an das meiste keine genaue Erinnerung mehr, aber das eine weiß ich doch: Es hat sich alles sehr verändert. Ich glaube nicht, dass das Haus noch steht, in dem wir damals gewohnt haben, mein Zivildienstkollege und ich. Marcus. Mein Ex-Zivildienstkollege und ich. Wir saßen am Strand, spielten Schach, aßen Thunfisch-Steaks und haben keine Behinderten mehr in gemeinsamer Anstrengung aufs Klo gesetzt. Damals. Wir gingen auch Wandern. Diesmal gehen wir, S. und ich, auch wandern. Die Bergwege sind viel steiler als damals, aber da täusche ich mich wohl. Oder wir gehen andere Wege. Wir spielen nicht Schach, wir lesen Bücher. Ich lese "Quitt" von Fontane und "Permutation City" von Greg Egan. Der Fontane spielt in Schlesien und in Amerika. Es kommen Indianer vor beim Fontane. Mit dem Greg Egan ist es viel komplizierter. Da ist wieder so viel Wissenschaft drin und ich weiß ja meistens nicht, wo der wissenschaftliche Wahnsinn aufhört und die irre Spekulation anfängt. Es ist aber wieder ein grandioses Buch um aus dem Ruder laufende selbst geschaffene Welten und die Existenz als Kopie im Rechner. Ja, das ist so ein Problem, die Existenz als Kopie im Rechner. Da gehe ich jetzt aber erst mal nicht ins Detail. Der Fisch ist sehr gut in "El Puerto", aber ich mag Fisch nicht so sehr. S. mag Fisch und ich esse gebratenen Thunfisch. Der ist auch gut und Thunfisch mag ich schon. Irgendwie ist der Thunfisch kein Fisch für mich. Ich esse auch Steak und auch das Steak ist sehr gut. Freilich ist Steak erst recht kein Fisch. An der Mole am Strand, die es so damals nicht gab, wie auch der Strand damals, glaube ich, ganz anders aussah, also vor allem die geteerte Straße, die gab es nie und nimmer vor fünfzehn Jahren, da bin ich ganz sicher, an der Mole am Strand kann man frisch gepresste Säfte trinken, von der Mango zum Beispiel und von der Papaya, und auf den Atlantik blicken, der hier ziemlich herumrauscht, und Fontane lesen. Zum Beispiel. Die zweite Hälfte vom Fontane spielt bei den Mennoniten und am Ende geht es aus, wie es ausgehen muss, weil, das verrät schon der Titel. Es scheint die Sonne bei ungefähr zwanzig Grad, das war auch damals so, als ich mit meinem Ex-Zivildienstkollegen hier war. Marcus. Wir haben uns dann aus den Augen verloren. Wir haben auf Gomera zwei sehr nette Männer mittleren Alters aus dem Osten kennengelernt. Osten heißt Ostdeutschland. Das waren, von einem etwas seltsamen Verwandten abgesehen, der total verrückt nach Rothenburg ob der Tauber war, meine ersten Ossies. Der seltsame Verwandte ist bald nach der Wende gestorben. Meine beiden Ossies waren sehr nett und sie waren sehr alt, schien mir. Sie waren bestimmt schon über vierzig. Der eine hieß Joseph, weil er so aussah, wie wir glauben, dass Joseph aussah. Der biblische Joseph. Sage keiner, die hätten keine Ahnung von der Bibel, die Ossies. Ich habe seinen richtigen Namen vergessen. Meine ersten Ossies und meine ersten Bananenplantagen. Mit Ossies hatte ich später noch zu tun. S. hasst Bananen, allein schon den Geruch. In den Bananenplantage hängen die Bananen grün in Stauden am Baum und sind meist in Plastik gewickelt. An das Plastik erinnere ich mich nicht. Ja, ich frage mich, ob sich die Bananenzuchttechnik weiterentwickelt hat in den letzten fünfzehn Jahren. Es ist aber doch unwahrscheinlich. Als wir zurückgeflogen sind, Marcus und ich, damals, haben wir in Berlin bei Joseph übernachtet. Er wohnte in der Almstadtstraße, also drüben. Im Osten. Ganz nah am Alexanderplatz. Das Licht der Laternen in der Nacht war ganz anders als ich es kannte, es war alles sehr unheimlich und aufregend. Die Ossies und wir, wir haben uns dann leider aus den Augen verloren. Marcus und ich, wir haben dann zunächst noch beide in Würzburg studiert. Dann haben wir uns auch aus den Augen verloren. Als ich nach Berlin gezogen bin, vier Jahre später, habe ich in dem Haus in der Almstadtstraße auf den Klingelschildern nachgesehen, musste aber feststellen: Joseph wohnt nicht mehr hier.

 
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