Mittwoch, 24. Oktober 2007
hier und da

Die Birne war groß, ihr Fleisch hart und nicht zart und die Schale raspelte meine Lippen. Ich hatte sie in Mailand gekauft, in einem Supermarkt im Bahnhofsuntergeschoss, während ich auf den Zug wartete, auf den nächsten, nachdem der richtige einfach ausgefallen war. So hatte ich zwei Stunden im angenehm warmen Mailand, sprach mit Customer-Care-Personal, das kein Wort englisch verstand, aber einen "treno piu veloce", den ich herbeizuradebrechen versuchte, den gab es sowieso nicht.

Eigentlich wäre ich längst in Berlin gewesen, seit dem Nachmittag schon. Aber von Venedig flogen die meisten Flieger nicht, weil in Frankreich jemand in Streik war. Die Easyjet-Telefonnummern, die ich am Schalter bekam, waren besetzt, vor den Ticketschaltern anderer Unternehmen lange Schlangen, so beschloss ich, den Zug zu nehmen und am selben Tag noch nach Bern zu fahren, wo ich auch nach Mitternacht noch auf einen Empfang mit offenen Armen hoffen durfte. So sah ich den Gardasee. So kam ich nach Mailand, wo ich eine Birne kaufte, die groß war und hartes Fleisch hatte, nicht zartes. Ich nagte sie ab, aber nicht ganz, sie schmeckte mir nicht recht, ich liebe Birnen (wie Avocados), wenn sie nicht zu fest sind und nicht zu matschig, sondern von dem Biss weder zu viel noch zu wenig Widerstand entgegensetzender mittlerer Härte.

Im Spätsommer waren wir in Kassel gewesen, wo das Mohnfeld längst 1a blühte. Vieles habe ich da gesehen, das sich nicht sofort erschloss, aber in dieser seiner Nicht-Erschließbarkeit kaum Aggression an den Tag legte, sich nämlich andererseits nicht verschloss. Freundliche Unerschlossenheit, die zur Erschließung einlud, nur war kaum mehr Zeit, als sich ein paar Momente zurückzulehnen, freundlich zurückzugrüßen die Dinge, die da im Raum standen, aber so, als gehörten sie da hin, als wüssten sie, warum, die auch gar nicht Ansprüche stellten, sondern nur zu versprechen schienen, dass sie eine längere Betrachtung belohnen würden. So kam mir die Kunst in Kassel vor, auch und gerade im viel gescholtenen, als Raum selbst keinerlei Ewigkeitsansprüche stellenden Aue-Pavillon. Die sehr schönen Sachen und die sehr doofen traten, nolens nehme ich an eher als volens, in den Hintergrund und machten Platz für ein Blicken und Wandeln zwischen dem aus der ganzen Welt herbeigeschafften Unerschlossenen, aber nicht Unerschließlichen.

Über die Lagune zu fahren im Vaporetto, bei Tag und bei Nacht, das ist sehr schön. Man friert dabei im Oktober, aber die Sonne über dem Wasser, hier die Giudecca, da ein Kreuzfahrtschiff wie ein fahrendes Hochhaus, das links vom Canal Grande zwischen den Häusern verschwindet, das ist so schön, da muss es wirklich nicht auch noch warm sein dazu. Man friert auch auf dem Biennale-Gelände, sowohl in den Giardini mit den mal neusachlichen, mal faschistischen, mal auch einfach nur seltsam ungarischen Länderpavillons als auch im großartigen Arsenale-Gelände. Stundenlang gingen wir herum, froren in den Giardini, sahen aber Kunst da, die oft die Begegnung lohnte, von Sophie Calles unendlich durchdekliniertem Abschiedsbrief (obwohl Calle immer auch nervt, ich weiß gar nicht so genau, wie sie das anstellt angesichts all der doch sehr großartigen Ideen, die sie da hat) bis zum selbst schon wieder protofaschistischen superstylischen Kampfvideo im Russenpavillon. Das Arsenale dagegen, das kann man sich wirklich sparen, da tut vieles politisch und erschließt sich dem ersten Blick schon als öde.

In unserem Lieblingslokal im Dorsoduro aßen wir wie vor vier Jahren Spaghetti alle seppie nere und wieder waren sie so gut, dass man sich wieder ein paar Jahre darauf freuen kann; vielleicht finden wir aber auch in Berlin jetzt mal ein Lokal, das sich mit Seppie Nere auskennt. Oder vielleicht besser sogar nicht, denn eine Vorfreude, die Jahre währt, die wärmt und nährt doch auf sehr angenehme, nicht zu feste und auch nicht zu matschige Art. Wir waren auch im selben Hotel wie vor vier Jahren, es hat etwas sehr Schönes, zu beobachten, wie sich Rituale entwickeln und man Dinge wiederholt, um dabei zuzusehen, dass sich das Gegenwärtige und das Vergangene und die Beobachtung der Überlagerung des Gegenwärtigen und des Vergangenen überlagern. (Man kann das ja nur so richtig beobachten, wenn man Trennungen einführt. Da, wo man lebt, da geht das kaum, da fließt alles und dieses Fließen ist wohl das, was das normale Leben - oder wie immer man es nennen will - ausmacht. Dieser Trennungen wegen muss man reisen, fast ebenso sehr wie der Ferne wegen, der man beim Reisen sich nähert.)

Gestern Mittag brach ich auf von Bern nach Berlin mit dem ICE. Sah Offenburg mit den Burda Media Towers, wo ich an Konstanz denken musste, weil von hier eine andere Linie über den Schwarzwald zum Bodensee runterbiegt. Sah Frankfurt und sah auch Kassel, wo mit der Kunst aber eine Weile schon Schluss ist, sah Hannover, aber nicht viel davon, denn da war es schon dunkel. Am mittleren Abend war ich zuhause, aß gar nichts mehr, sah aber auf DVD noch einen Film, der schöner und schöner wurde, je länger ich hinsah, nämlich Stefan Westerwelles "Solange Du hier bist". In dem Text, den ich dazu schrieb heute morgen, habe ich den Titel erst falsch zitiert, als "Solange Du da bist" nämlich. Dabei ist das so wichtig, das "Hier" in dem Film, der gar kein "Da" kennt, so wichtig, das wird sich jedem, der den Film sieht, auf der Stelle erschließen.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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