Montag, 24. Mai 2004
unterwegs in berlin

Elsa Thiemann: Berlin, Kottbusser Tor, nach 1945

Freitag, HAU 3

Ein Hinterhof, ein Treppenhaus, von oben Lärm wie von einer Party, die schon ziemlich heftig im Gang ist: HAU 3, off off Broadway von und mit Matthias Lilienthal, eklige Type, Ex-Volksbühnen-Dramaturg, jetzt Herr über drei Independent-Bühnen rund ums Hallesche Tor. Da steht er am Geländer, mitten im Gedränge einer Crowd, die vor Neid und Insidertum und Konkurrenzgefühlen vibriert, bezirzt von drei jungen Frauen, die wohl wollen, dass er was von ihnen will. Am Rand auf einem Stuhl eine ältere Frau, graue Haare, wahrscheinlich die Oma eines der Beteiligten, das geht sie alles gar nichts an. Verteilt werden Fragebögen "Publikum im Rampenlicht 2004", die erste Seite habe ich ausgefüllt. "Was streben Sie persönlich in Ihrem Leben an? Wie wichtig sind die folgenden Dinge für Sie? ein aufregendes Leben, Religion und Kirche, Freiheit und so weiter und so fort". Ja, sonst noch was. Hab das Blatt still zusammengefaltet und eingesteckt. Den Kuli hab ich mitgehen lassen.

Jochen Roller: Mindgarden. Ausverkauft, heiß, am Ende des kleinen Saals auf sieben Stühlen sieben Tänzerinnen und Tänzer. Einer tanzt und steht, eine Weile noch, es dauert, Nacheinlass, Leute sitzen auf den Treppen. Dann tanzt ein anderer. Und spricht, gehetzt. Tanzt, spricht, beschreibt, tanzend, sprechend, sein Zimmer. Mein Bett, mein Tisch, meine Ofenheizung. Gestisch unterstrichen, Tanz als Geste, Tanz als Illustration. Dann eine Videoeinspielung, derselbe Mann bewegt sich durch Berlin, ganz normal erst, dann immer wieder unterbrochen durch kurze Momente des Tanzes, silly walks. Im Probenraum. Man schreibt Wörter auf, die man vertanzen kann. Quatsch, Quatsch. Wochenende. Vertanz das mal. Hier findet der Abend zu seinem Prinzip. Verhandelt wird die Lesbarkeit des Tanzes zwischen Geste und Figur. Programmtanz, der aber immer wieder ins heillos Unlesbare entweicht. Vorgelesen werden Texte zum Schwänzeltanz der Biene, zur Kommunikation unter Neurotransmittern. Das wird getanzt. Dagegen aber stehen Schrifteinblendungen mit den Wörtern, die in der Videoeinspielung notiert wurden. Der Performer, der schon sein Zimmer vertanzt hat, tanzt nun den Neurotransmitter-Text und die dazwischengestreuten Wörter (Dribbeln, Wochenende, Quatsch, Quatsch). Es geht durcheinander. Später treten die einzelnen Tänzer ans Mikrofon, ein Ratespiel: Eine neurophysiologische Störung mit A. Wird dann vertanzt. Man rät und rätselt, mal erkennt man es, mal nicht. In der Lücke zwischen Erkennen und Nicht-Verstehen steht, als Witz und Ernst, die Frage nach dem Status des Tanzes: nach seiner Lesbarkeit, seinem Verhältnis zum Begriff, zum Bild. Große Momente. Brainy, sexy, funny stuff.

Übrigens, für alle Tanz-Fans: tanz.at, großartiges Portal mit vielen Kritiken zu aktuellen Inszenierungen und Choreografien.

Samstag, Arsenal

Bis vor wenigen Wochen hatte ich noch nie von Emile de Antonio gehört. Dabei habe ich in Austin, das stellt sich jetzt heraus, sogar bei seinem "Literary Executor" studiert, Douglas Kellner, der kam hier gelegentlich schon vor. Gerade wird de Antonio im Zuge der ganzen "Agitdoc"-Welle wieder ausgegraben, das Arsenal zeigt eine ganze Reihe seiner Filme, ein Independent-Filmemacher, hat den politischen Dokumentarfilm neu erfunden. Heute läuft "In the Year of the Pig" aus dem Jahr 1968. Ein Film über Vietnam, der found-footage-Dokumentarmaterial mit Talking Heads verschneidet. Das ganze ist mit Michael Moore nicht zu vergleichen, gar nicht agitatorisch, sondern ganz nüchtern, der Kommentar liegt im Schnitt, in den Aussagen der Experten, ein Buddhismus-Professor darunter, Senatoren, auch republikanische.

Nachzulesen: Emile de Antonio im Interview (bei Senses of Cinema gibt es ein großartiges Dossier): "My films are a kind of history of the United States in the days of the Cold War. They are episodic disjunctive histories. They're not like a written history which moves magisterially from the beginning to the end. They're chaotic; they're made by a chaotic person and his interests." Das stimmt, genau so.

Sonntag

Lützwoplatz, mitten in Berlin, zwischen Landwehrkanal, CDU-Zentrale und Urania. Nebeneinander: Ben Beckers Trompete, die Bundeskulturstiftung, die Galerie "Haus am Lützowplatz". Hier zu sehen eine Ausstellung der Karlsruher Meisterklasse (obwohl das da vermutlich nicht so heißt) von Uwe Laysiepen, aka Ulay, bekannt auch für seine körperzentrierten Arbeiten mit Marina Abramovic. Eine Frau mit kurzem grauem Haar sitzt in der Mitte der Galerie, strickt etwas Blaues, sitzt frontal vor einem Monitor, auf dem zu sehen ist, wie die Ulay-Schülerin Patricia Röder mit Entwicklerflüssigkeit und Fotopapier hantiert (tunkt sie ihr Gesicht in die Flüssigkeit? Man sieht es nicht genau.) Die strickende Frau ist sehr freundlich, wir sind die einzigen Besucher für die nächste halbe Stunde, erst als wir gehen, kommt ein weitere Pärchen rein. Im Nebenraum noch ein Röder-Werk, "Solaritude", Rückansicht ihres sonnenverbrannten nackten Körpers mit weißem Muster. Sie hat sich eine halbe Stunde in die Sonnenbank gelegt. Von Ulay selbst gibt es vier Fotografien, "Karina, Prag", eine tätowierte junge Frau, ihre Brüste, eine Seitenansicht, ihre gepiercte Schamlippe, blond gefärbtes Schamhaar. Bettina Metzens Video "Stationär", im Wald, zwischen Bäumen, eine Frau mit weißem Gesicht, ganz in ein seltsames rotes Textil gehüllt, gegen das sie zu kämpfen scheint wie gegen eine Zwangsjacke. Am Ende (was allerdings nur eine Lektüre des Loops ist) erhebt sie sich in die Luft, als wär's ein Video von Bill Viola. George Cockburn beobachtet in "Cannibal" in einem 1-min-Loop einen Eishockeytorwart in ruckelnder Minimalbewegung, vor zurück, Kopfnicken. Sehr schön sind die Fotografien von Andreas Friedrich, mit Ulay würde man sie überhaupt nicht in Verbindung bringen (was wohl für den Lehrer spricht). Großes Gespür für Lichtvalenzen, ein Swimmingpool in künstlichem Blau, ein Baum im teils erleuchteten Dunkel, eine helle Litfasssäule in der Nacht.

Danach, weil es auf dem Weg lag, ins Bauhaus-Archiv- und Museum, das erste Mal überhaupt. Marcel Breuers Stühle sind hier zu bewundern, ein Modell von Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon und Wagenfeld-Lampen. Das eigentlich Großartige aber die Sonderausstellung zur Fotografin Elsa Thiemann, die bei Peterhans am Bauhaus Fotografie studiert hat, in den 30ern als Werbe- und Reportagefotografin tätig war. Hier sind großartige Berliner Straßenszenen zu bewundern, aus den 30ern, aber auch von 1945, Ruinenlandschaften, und später. Der Bauhaus-Sinn für formale Abstraktion steht der Genauigkeit des Blicks, dem Interesse am Anekdotischen gar nicht im Wege, Milieufotografie findet sich neben detailfotografischen Rätselbildern. Draußen Platzregen, drinnen auf dem vielleicht schönsten Bild eine Neuköllner Straßenecke nach dem Regen, das Licht glänzt auf dem feuchten Asphalt.

 
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