Montag, 7. Juni 2004
unterwegs in berlin

Samstag:

Walid Raad, der Teil der Atlas Group ist oder sich wohl eher Atlas Group nennt - in welchem Falle die Atlas Group keine Group wäre, das haben Sie richtig erkannt -, zählt Autobomben. Im Libanon. Und er erzählt von den Autobomben. Zählt Tote. Nennt Namen. Zieht Verbindungslinien. Zeigt Fotos. Macht Filme. Manipuliert das Material. Diagramme, Gesichter, Bombengeschichten. Dreitausendnochwas Bomben, erzählt er. In seiner Lecture Performance, Samstag Abend im Haus der Kulturen der Welt. Power Point Präsentation, ernste Miene, gelegentlich heftige Tempobeschleunigungen, er bremst sich, er bricht ab, er setzt neu an. Namen, Gesichter, Informationen, ein Overload. Nichts von dem, was wir recherchiert haben (wir, die Atlas Group, die es wohl nicht gibt), hat uns überrascht. Die Fakten, sagt er, sind bekannt. Bombengeschichten sind bekannte Geschichten, wir fördern nichts Neues zu Tage. Die Atlas Group recherchiert, rekonstruiert. Auf der Documenta 2002: Fotos von Motoren, die bei Autobombenattentaten durch die Luft geschleudert wurden und nun herumliegen, am Straßenrand. Daten, Fakten. Fake Fake Fake. Fake? Man weiß es nicht. Meine Mitarbeiter, sagt Walid Raad, er nennt Namen, hier rechts einer, hier links einer. Ein Aufsatz wird erwähnt, eine Zeitung, libanesisch, weiß der Teufel, ob irgend etwas davon existiert. Auf der Documenta 2002: Sonnenuntergänge. Eine Geheimdienstgeschichte. Keine Bomben, aber auch nicht wahr. Natürlich, die Bilder sind echt. (Oder?) Aber sonst wird einem was vom Pferd erzählt. Denkt man. Und dann zweifelt man. Wieviel Wahrheit ist im Fake? Und was sagt uns der Fake über die Wahrheit? Oder über die Politik? Oder über das Reden über Politik? Nahost-Verarschung. Dann der Filmf. Man sieht die Straße, in der die Autobombe detonierte (eine von tausenden; alle sollen recherchiert werden. Sagt Walid Raad.), man sieht Leichen, Fotos, den Fotografen. Auch die Geschichte des Fotografen wird erzählt. Alles wird erzählt, nichts wird ausgelassen. Aber was sagt es uns. Manipulierte Bilder. 360-Grad-Kamerafahrten. Dann verschluckt, plötzlich, die Straße die Autos. Dann verschwimmt, plötzlich, das Häuserbild zu Streifen, Bildbremsspur. Bombengeschichten.

Sonntag:

World Press Photo Award. Damit schmückt sich die SPD im Willy-Brandt-Haus. Glaubt sie. Sozialdemokratisches Bildverständnis. Obszönitäten ohne Gleichen. Was man hier sieht, das Elend der Welt, ins schlichte Bild gefasst, ist das Grauen. Aber nicht das Grauen der Welt, sondern ein grauenhaftes Verständnis von Ästhetik. Von Realismus. Von Abbildbarkeit. Preise zuhauf, Kategorien, die sich tief hinein ins Absurde aufblättern. Und ins Zynische. Die Kategorie "Harte Fakten": hier gibt's Tote, Verstümmelte, eine Frau hält einen Kopf in die Luft, an dem kein Körper mehr hängt. Die SPD und alle, die ihres Geistes sind, glauben, das habe was mit Wahrheit zu tun. Honi soi qui comme ca pense. Preise über Preise. Grauenhafte Sentimentalisierung des Krieges, Vater, Sohn, hinter Stacheldraht, Mann mit Tüte auf dem Kopf, hält den Sohn im Arm. Auf den Auslöser gedrückt, keine Skrupel gekannt, an die Wand gehängt, mit dünnem schwarzen Rahmen, erste Preis, welche Kategorie, scheiss auf die Kategorie, auf dem Cover des Katalogs. Fotografen, fast ausnahmslos, die keinen Preis verdient haben, sondern einen Schlag in die Fresse. Ausbeutung von Menschen, die zu preiswürdigen Gegenständen werden. Darüber das verlogene Deckmäntelchen der harten Fakten gelegt, denen man ins Auge schauen muss. Fertig ist das ästhetische, das moralische, das politische Desaster. Das schmückt die Wände der SPD. Hier einen übergewichtigen Jungen mit Beatmungsmaske neben einen Verhungernden gehängt. Hie Krieg, da Tod. Quotenelend, Elendsquote. Was fürs Gewissen. Wir dürfen die Augen davor nicht verschließen. Das sagt nicht nur die Ausstellung, das sagt beinahe jedes dieser Bilder. Und lehnt sich an die abendländischen Großmeister an, in der Bildaufteilung. Die Schönheit des Geköpften. Die Faszination des Grauens. Oder der schiere Kitsch. Atemberaubende Dummheit. Dreck Dreck Dreck.

Something Completely Different.

Schaubühne, Sasha Waltz, Impromptus. Schubert, später. Erst die Stille. Zwei Tänzer, die sich beinahe nicht nahe kommen. Schiefe, weiße Ebene, im Hintergrund wie holzgemasert eine parallelogrammoide Hinterwand, an dünnen Fäden aufgehängt. Nach den zwei Tänzern ein Pas de Deux, Mann Frau winden sich ineinander aneinander. Zart, sehr zart. Schubert dazu, live am Klavier. Dann, schöner noch, Schwebefiguren, Stillstellung - immer nur für eine Sekunde, zwei - zum Tableau, zur Figur im Raum. Schattenspiele, auf dem Boden, an der Wand. Die Mühelosigkeit dieses Schwebens in vollendeter Langsamkeit. Körper schmiegen sich, schwebend, an Körper, Figuren an die Musik, Bewegungen in den Raum. Das ist zu schön nicht um wahr zu sein, aber zu schön, um dauern zu können. Leider vergeht es nicht nur. Es folgt ein Absturz. Gummistiefeltänze. Dazwischen noch Armfiguren, Bewegungsfiguren, Gruppenbildungen. Letzte Hoffnung für einen Abend, der unversehens auf eine schiefe Ebene in Richtung Kitsch und Dämlichkeit geraten ist. Farbtanzerei, action waterpainting, Kreidezeichnung. Dann gedimmtes Licht, Sasha Waltz bittet ihre wie stets erlesenen Tänzerinnenkörper zum Bade. Wasserplanscherei zur Schubertmusik. Gesang zwischendurch. Das Klavier wird zugeklappt, die Klavierspielerin geht. Später wird es wieder aufgeklappt, Gesang wieder. Die Choreografie zerfasert, man sehnt den Beginn zurück. Riesiger Applaus vom Charlottenburger Publikum. "Ich bin hell begeistert", sagt draußen die ältere Dame mit der frisch verputzten Dauerwelle. Impromptus. In Schönheit geboren, im Kitsch ersoffen.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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