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Donnerstag, 14. Oktober 2004
seminartag 1: bürstenhalter
knoerer
11:32h
Dienstag: Beim Versuch, den neuen Drucker anzuschließen, stirbt mein Rechner. Mainboard kaputt, Prozessor kaputt sagt HPT, zu dem ich eile, eigentlich unerklärlich. Bei der Organbeschau in der Notaufnahme viel Kopfschütteln, Dell, sagt er, Dell, so etwas baut seit Jahren keiner mehr. Mittwoch: Beim verrückten Franzosen nebenan, im Copy-Shop, der auch Internetzugang anbietet, das Bahn-Ticket ausgedruckt, noch schnell bei der AGB vorbei, die empfohlenen Philip-Roth-Titel sind alle ausgeliehen, ein Huhn-Curry-Wrap beim Tchibo-Stand am Bibliothekseingang, dann die U1 und U2 zum Zoo, schnell in den Zug. Seminarvorbereitung, Hans-Thies Lehmann (Postdramatisches Theater), Notizen gemacht, spontan noch Rainald Goetz ins Programm genommen, Jeff Koons. Thema des Seminars "Theater heute: Dramatisches und postdramatisches Theater", Germanistik Erfurt. Vorläufiger Plan, Texte von Handke, Strauß, Jelinek, Schimmelpfennig, Heckmanns, Pollesch und jetzt noch Goetz. Mit der Publikumsbeschimpfung anfangen. Kurz hinter Potsdam werde ich kontrolliert von Frau Punkt. Frau Punkt ist blond und macht einen strengen Eindruck. Ich fange an, Jean-Philippe Toussaints "Sich lieben" zu lesen, aber auf Seite zwei taucht das Wort Shinjuku auf und ich glaube, beim raschen Blick auf das aktuelle Bahnmagazin "Bahn mobil" auch das Wort Shinjuku gelesen zu haben. Ich lege Toussaint zur Seite und greife nach dem Bahnmagazin, das sich im zum freien Platz rechts neben mir gehörigen Netz am Vordersitz verklemmt hat. Erst nachdem ich den Klapptisch heruntergeklappt habe, kann ich es befreien, es ist, ich war zu ungeduldig, jetzt aber zerdrückt und leicht eingerissen. Vorne drauf ist Karl Lagerfeld und tatsächlich steht da, links: Shinjuku, ein Artikel über Shinjuku Station, ich weiß nicht, was das ist. Ich habe überhaupt das Wort Shinjuku, den Namen, der, denke ich, vielleicht der einer japanischen Stadt ist, noch nie gelesen. Oder jedenfalls erinnere ich mich nicht. Erst einmal bleibe ich am Artikel über Lagerfeld hängen, den Paul Sahner geschrieben hat, die Edelfeder der "Bunten" und so liest sich das auch. Wenn Franz-Josef Wagner die Doppelrahmstufe des Drecksjournalismus ist, dann ist Sahner die Diät-Version. Lagerfeld-Hudelei, es ist viel die Rede von seinen Salon-artigen Abendessen, bei denen man nicht über Probleme reden darf. Wer nicht in der Lage ist, von seinen Problemen zu schweigen, der soll zuhause bleiben, sagt Lagerfeld. Und von seinem Diätwahn, der viel mit der Strenge seiner seit fünfundzwanzig Jahren toten Mutter zu tunt hat, spricht er auch, Lagerfeld, mit Sahner. Sehr beeindruckt hat mich die folgende Aussage: "Seit dem 1. November 2000 habe ich kein Milligramm Zucker gegessen. Ich vermenge rabenschwarzen Espresso im Mund mit einem Schluck Diät-Pepsi, das ist mein bitterer Schokoladenersatz." Dann der Shinjuku-Text. Shinjuku Station ist Tokios größter Bahnhof, unterirdisch, täglich werden hier 3,4 Millionen Menschen durchgeschleust. Das ist sehr viel, denn die Deutsche Bahn, in deren Zug ich hier sitze, transportiert jeden Tag nicht mehr als 4,5 Millionen Menschen in ganz Deutschland. Shinjuku ist ein Viertel in Tokio, das Verwaltungsviertel, mit dem berühmten Hotel, dessen Name mir jetzt schon wieder entfallen ist, obwohl es bei Toussaint, den ich bei der Rückfahrt weiterlesen werde, erneut auftaucht. In Weimar merke ich, dass der Tag, obwohl es erst kurz nach 15 Uhr ist, schon den Eindruck macht, als wollte er bald zur Neige gehen. Einen Abend-Eindruck, einen später-Nachmittag-Eindruck. Es fällt mir auf, dass sich der Winter nähert und auch, dass ich Erfurt vor allem als Herbst- und Winterstadt kenne, im Sommer habe ich hier kein Seminar gegeben, ich war seit Ende Januar nicht mehr hier. Der Bahnhof, an dem schon gebaut wird, seit ich Erfurt kenne, und das heißt seit ungefähr 1998, ist jetzt erstmals als Bahnhof zu erkennen. Das Gerüst der neuen Bahnhofshalle steht, sie ist zur Innenstadtseite hin verglast, sieht ein wenig aus wie der Ostbahnhof in Berlin auf seiner Friedshain zugewandten Seite. Geänderte Personenführung steht auf einem Schild. Hier ist immerzu geänderte Personenführung, es ist wie in einem mittelalterlichen Roman mit seinen verwunschenen Raumvorstellungen, in dem sich von einem Moment auf den anderen die Wege und Pfade ändern. Wo einer war, ist keiner mehr. Hier aber gibt es Pfeile und Schilder und bald bin ich draußen, auf dem Vorplatz und steige in die Straßenbahn Nummer drei, die hinausfährt zur Universität, die ein wenig außerhalb liegt. Es ist warm, viel wärmer als in Berlin. Der Campus ist belebt. Da ich nicht weiß, in welchem Raum das Seminar stattfinden wird, begebe ich mich erst einmal in den dritten Stock des Hochhauses, in dem die Büros der Dozenten liegen, und lese am Schwarzen Brett, wohin ich gehen muss. Neben mir stehen zwei Studenten und als einer auf den Zettel mit meinem Seminar zeigt, weiß ich, dass sie zu mir wollen. Sie sagen mir, welches das LG 1 ist, denn bisher habe ich da noch nicht unterrichtet. Die beiden sind zwei von sechzig. Der Raum ist voll, sehr voll, Getuschel, ein paar vertraute Gesichter. Ich spüre plötzlich eine unerwartete Freude. Das war mir nicht klar, oder, vielleicht, habe ich es doch geahnt. Ich freue mich, wieder zu unterrichten, diese Erfahrung wieder zu machen. Ich erkenne sie wieder. Es ist immer wie ein Auftritt, vorher bin ich unruhig, nervös. Eine Überwindung, ein wenig, wie man es von manchen Schauspielern hört, Lampenfieber. Als sich aber die Tür schließt und ich mit sechzig Leuten in einem zu kleinen Raum fast wie eingeschlossen bin und alle mich erwartungsvoll ansehen: diese plötzliche Freude. Ich merke, dass ich anfange zu sprechen, in Gesichter zu sehen. Ich glaube, ich freue mich darüber, einer Person wiederzubegegnen, die ich kenne, die ich bin, aber nur in diesen Situationen. In Vorträgen und im Seminar. Es macht mir - dann, plötzlich - Spaß, der zu sein, der ich sonst nicht bin. Es ist immer ein Sprung, vom Beobachter zu dem, der im Zentrum der Beobachtung steht. Immer ein Ritt über den Bodensee. Aber alles geht gut, aufmerksame Gesichter, ich stelle Fragen, zwei Schauspielerinnen im Seminar, viele melden sich, beteiligen sich. Eine ganz andere Zeit, die Zeit des Auftritts, sie geht sehr schnell vorbei, ich spüre, dass ich gegen Ende der Stunde heiser werde, alles ist gut gegangen. Fahrt zurück zum Bahnhof, auf dem Domplatz, das sehe ich erst jetzt, das Erfurter "Oktoberfest". In der Bahnhofsbuchhandlung kaufe ich die ZEIT, eine andere Kundin fragt mich, warum es sie schon am Mittwoch gibt. Ich zucke mit den Schultern und gehe zum Bahnsteig. Jetzt auch wieder die großartige Stimme der Bahnsteigzugansagerin, die Freude des Wiedererkennens. Erfurt, merkwürdige Heimat, Straßenbahn, Domplatz, Campus, die Ansagerinnenstimme. Ich lese die Nachrufe auf Derrida, ärgere mich wie immer über den Unsinn der Iris Radisch und freue mich, auch wie immer, über einen Text von Rolf Vollmann. Ich nehme mir vor, das Dossier zu lesen, über die Zustände in Russland, in der Armee, aber nach einer halben Seite habe ich dann, schon im Zug, keine Lust mehr, lege die ZEIT beiseite und lese weiter im Toussaint. Auf Seite drei, kurz nach der ersten Erwähnung von Shinjuku, gibt es einen Druckfehler - ich lese die deutsche Ausgabe, obwohl mir M. die französische mitgebracht hatte -, es ist vom Bürstenhalter Maries die Rede. Ein paarmal denke ich auf der Rückfahrt noch "Bürstenhalter" und muss jedes Mal lachen, ein wenig irre. Nach den ersten Seiten beginne ich, den Toussaint zu mögen. Gerade das Milchige, die mühelose Mühe der vermeintlich genauen Beschreibung. Der Anschein einer Genauigkeit, die sich aber mit dem Nennen, dem Umkreisen, dem Erfassen der Dinge begnügt. Keine ausgefallenen Metaphern, auch gar nicht der Wunsch, obgleich man das erst einmal denken könnte, etwas präzise zu benennen, neu und anders zu beschreiben. Eine sich begnügende Aufmerksamkeit, die beobachtet, aber nicht analysiert, es erinnert mich ein wenig an Handke. Ich höre nach fünfzig Seiten auf zu lesen, ich merke, dass ich zu müde werde für den Text. Dabei scheint mir, dass er vielleicht für eine mittlere Müdigkeit geschrieben ist, eine leichte Ungenauigkeit des Empfindens und Wahrnehmens, dass er einen, wenn man in dieser Stimmung leichter Ungenauigkeit ist, trägt und wärmt. Jetzt bin ich aber zu müde und lese ein Kapitel in Craig Thompsons Comic-Roman "Blankets", den ich auch sehr zu mögen beginne, obwohl die seine eine mir etwas fremde Kunst ist. Ich mag den Zeichenstil nicht sehr, aber die Verletztlichkeit, den, wenn man so sagen kann, zugleich souveränen und ungeschützten, ganz und gar uneitlen Umgang mit dem Autobiografischen. In Wittenberg ungefähr werde ich auch dafür zu müde, blättere noch ein bisschen in der ZEIT, lese dann bis zur Ankunft in Berlin, im Kampf gegen zufallende Augen Charles Williams' Kriminalroman "Ein Mann an der Leine" weiter, der zusehends bösartig wird. Ich steige am Ostbahnhof aus, fahre bis Friedrichstraße, nehme die U 6 nach Hause. Donnerstag: Ich schreibe an meinem alten Notebook mit der kaputten Tastatur das Seminartag Diary und werde jetzt HPT anrufen, der mir sagt, wie es um meinen Dell-PC steht.
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