Samstag, 30. Oktober 2004
wien-berlin

Die gelben Reservierungsschilder über den Sitzen um mich herum im Raucherabteil, in dem dieser Platz noch frei ist im vollen Zug, ich habe nicht reserviert: in Prag erfüllen sich die düsteren Ahnungen. Herein stürmt eine Schulklasse, sie sind 16, 17 vielleicht, Ende einer Klassenfahrt, ich werde umspült, sie lassen sich nieder auf den Sitzen unter den gelben Reservierungsschildern, ich bin allein unter Jugendlichen, Lärm. Ein Vorfall, ein Unglück, einer der Lehrer läuft, watschelt aufgeregt durch den Gang, bückt sich, er hat seinen Geldbeutel verloren, will nicht wahrhaben, dass er ihm geklaut worden ist. Keine Häme unter den Schülern, auch als er weg ist, sie mögen ihn. Herr Nitze. Er ist schon älter, Mitte fünfzig vielleicht, er hat ein etwas fleischiges Gesicht mit nicht ganz gesunder Farbe, es fällt ihm schwer, sich auf den Boden zu knien. Die Schüler sehen unter ihren Sitzen nach, auch unter meinem. Einer, viel größer als Herr Nitze, nimmt ihn vorsichtig fast in den Armen, er ist sich dieser Berührung nicht sicher, eine zögerliche Trostbewegung. Vielleicht wegen dieser Geste beschließe ich, nicht aufzustehen, vier Stunden nach Berlin, die Klasse fährt bis Hamburg. Ich lese James Ellroy "Blut auf dem Mond".

Zwei Jungs, einer heißt Moses oder Moe, trägt eine dünne weiße Baumwolljacke über einem dünnen weißen Baumwollpullover und feuert mit der Spielzeugpumpgun, die der mehr als militärisch kurz Geschorene gegenüber im Vierersitz in Prag gekauft hatt. Die Pumpgun wird geschwenkt, ich gerate nicht ins Visier. Der Kurzgeschorene droht alle niederzumähen, die hier rauchen wollen, im Raucherabteil. Er ist der Sportler, er wird später von seinem bevorstehenden Kampf reden und davon, dass er im Dezember vielleicht erstmals Geld verdienen wird in einem Kampf. Ich weiß nicht, welchen Sport er betreibt, Judo, denke ich mir, bestimmt nicht. Kurz darauf wird im Vierersitz Backgammon gespielt, in Berlin dann, als ich aussteige, Maumau, die Karten werden auf den Bahnklapptisch in der Mitte geknallt.

Im Sitz neben mir, über den Gang, ein großer Blonder und einer mit Brille, der die Augen geschlossen hat und Musik hört. Musik ist allgegenwärtig, viel HipHop, CD-Player, MP3-Sticks an Halsketten, lange Zeit nur Kopfhörersounds im Abteil, später dann laut, aber manche beschweren sich. Hinter mir zwei, die zeichnen. Er sehr zerklüftete, sehr bunte Figuren, sie einfarbige Blöcke, ich erhasche nur kurze Blicke, kann nicht erkennen, ob sich das jeweils zu etwas fügt. Vier Lehrer sind dabei, eine davon die etwas spitzgesichtige Referendarin, man sieht, dass sie halb noch denkt, dass sie dazu gehört, zu den Jugendlichen, sie ist unsicher, sie wäre gerne cool, stößt auf wenig Resonanz, verschwindet wieder. Es gibt den Bärtigen und den Jüngeren, mit ein bisschen Grau im Haar, Lehrer, denke ich, Lehrer, auf der Straße hielte ich sie für Lehrer. Der Jüngere spielt dann Backgammon mit den Jungs, die Pumpgun ist irgendwohin verschwunden.

Handys, die vorgeführt werden. Begehren, das durch den Raum kreuzt. Nur ein festes Pärchen, so weit ich sehe, der Sportler und eine Blonde, später giften sie sich kurz an, nichts Ernstes. Da hinten die, die mit niemandem sprechen und schlecht gelaunt aussehen. Zweimal geht mit Verachtungsblick die Gothic-Fraktion durch den Gang, sie sitzen nicht in meiner Nähe, verschwinden aus meinem Blickfeld. Zwei Jungs haben Wollmützen auf, einer mit Ohrenklappen, der andere ohne. Der Zeichner fängt kurz an, ein Kreuzworträtsel zu lösen, er gibt das gleich wieder auf, einer der beiden mit Wollmütze hat die Bravo in der Hand, keiner liest in einem Buch. Nach vier Stunden Berlin Ostbahnhof, ich verspüre den Wunsch mich zu verabschieden, aber ich lasse das natürlich. Sie haben mich gar nicht bemerkt, sie waren ganz unter sich, Ende einer Klassenfahrt, einmal ist eines der Gummibärchen, mit denen sie sich bewerfen, auf mir gelandet. Hat aber keiner gemerkt.

 
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last updated: 26.06.12, 16:35

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