little india

Habe mir extra die Wegbeschreibung ausgedruckt und die Straßenangaben. In der U-Bahn sitzend gemerkt, dass ich die Blätter zuhause vergessen habe. Egal. Nach Queens, Jackson Heights, Roosevelt Avenue raus, das wusste ich noch, ein bisschen Desorientierung kann ohnehin nicht schaden, wenn man sich umsehen will. Also Roosevelt Avenue raus. Die 7 ist, anders als der R-Train, den ich genommen hatte, keine U-Bahn, sondern eine elevated train, durch ganz Queens, hält alle paar Meter, kann man nur empfehlen, ich habe ihn dann für den Rückweg genommen. Lohnt sich nicht nur wegen des Blicks auf die Dächer der Neighborhoods von Queens (Woodside: irisch, dann kommt etwas Thai-Dominiertes, später griechisch), sondern auch, weil man von nirgendwo sonst die ganze Längsflanke von Manhattan so eindrucksvoll in den Blick nehmen kann. Anders als in Berlin, wo unter den Hochbahnen nur mehr oder minder totes Land zu finden ist (Gehweg, den keiner nutzt), ist hier direkt die Roosevelt Avenue darunter, an deren Seite dicht an dicht die engen Läden sitzen und Restaurants und Diner. Die Hochbahn wirft Schatten, überdacht die Straßenmitte, eine Art invertierter Allee, gibt noch an ihrem Rand das Gefühl, man bewege sich in einer endlosen Straßen-Passage. Bevor ich die Roosevelt Avenue entlang gehe (kilometerlang, ich kann gar nicht mehr aufhören, lasse einen Hochbahn-Aufgang nach dem anderen links liegen), zweige ich ab, in die 74. Straße hinein, hier, glaube ich mich zu erinnern, im Internet gelesen zu haben, liegt Little India. Tatsache. Ein CD-DVD-Laden neben dem anderen, viele Bollywoodfilme, auch Klassiker darunter, schon für fünf Dollar zu haben, Sie können mir glauben, dass ich in jeden einzelnen dieser Läden gegangen bin. Einen der Verkäufer konnte ich sogar überreden, mir Videokassetten (für einen Spottpreis) zu überlassen, die nur für den Verleih gedacht sind. Restaurants, Sari-Shops, ein Plakat, das den World War III ankündigt (das Kricket-Match zwischen Indien und Pakistan, das übrigens gerade zu Ende gegangen ist, mit einem knappen Sieg für Indien, ein Glück, in den Läden wird es schon als Video verkauft). Nur drei, vier Straßen umfasst das hier, aber sofort wieder das Glücksgefühl, in eine ganz andere Welt geraten zu sein (und eine mit Bollywoodfilmen: muss das Paradies sein). Schon hier keineswegs nur Inder unterwegs, sondern Hispanisches, Asiatisches aller Art, an der Ecke ein paar Hare Krishna, ein soignierter älterer Herr verschenkt Reisbällchen, in den Fenstern gelegentlich koreanische Schriftzeichen, eine koreanische Kirche gar. Zurück auf der Roosevelt Avenue wird schon bald klar, dass das hier Südamerika ist. Salsa-Musik aus den Läden, geschluchzter Schnulzen-Pop, mexikanischer Fastfood, brasilianische Restaurants und ein peruanisches, dazwischen immer wieder ein Koreaner. Kilometerlang, ich gehe und gehe und staune und staune, die Gehsteige sind voll, es ist Sonntag, die Hochbahn wirft ihren Schatten. Das Glücksgefühl, in eine andere Welt geraten zu sein.

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archiv der langeweile V

In der Bibliothek Martina Kessels geschlechterpolitische Studie "Langeweile" in der Hand gehabt, zu der der Perlentaucher Hans-Ulrich Wehlers Urteil referiert, es sei "blutleere Ideengeschichte". Obwohl mir Wehlers Theorieborniertheit sehr zuwider ist, würde ich nach einem ersten Durchblättern nicht widersprechen wollen.

Bei diesen Perlentaucher-Notizen, von denen ich tausende geschrieben habe, frage ich mich manchmal, wenn ich dann bei einer Suche auf eine stoße, ob sie wohl von mir stammt. Ich habe kaum Erinnerung an diese Texte. Eine Formulierung wie "der unverwüstliche Nestor der deutschen Sozialgeschichte", die verschafft dann aber die Gewissheit nicht eines Autors, sondern desjenigen, der sich mit einem Autor auskennt. Nein, das könnte ich nicht geschrieben haben.

Kennt übrigens jemand, verzeihen Sie, spannende Langeweile-Texte?

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archiv der langeweile (IV)

Alle "gute Unterhaltung" reagiert nämlich auf die Verzweiflung der Langeweile. Statt hier nun - wie Adorno und Postman - kulturkritische oder - wie Kierkegaard und Heidegger - existenzphilosophische Reflexionen anzuschließen, genügt uns die Einsicht von Adam Phillips, daß Langeweile der Wunsch nach einem Begehren ist. Es mangelt an Mangel und Irritation.
Langeweile ist der Feind des Gehirns. Deshalb brauchen wir Sport, Hobbies, Sex, Drogen und Musik. Und von der Neurologie zur Soziologie ist es dann nur ein Schritt: Die Grunddynamik des modernen Lebens ist die Flucht vor der Langeweile. Aus der Sackgasse, in die uns das Bedürfnis nach Komfort gesteuert hat, kann uns nur die Stimulationd es Neuen befreien.

Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, S. 95

Sagenhaft unsympathisches Buch übrigens, Bolz gibt sich als Supermegahyperwelterklärer. Kein einziger originelle Gedanke drin, würde ich mal überschlägig sagen (was natürlich nicht heißt, dass nicht einige kluge darunter sind). Weltbild ganz auf Luhmann umgerüstet und sonst viel Zeug, mit dem man Managern die Welt erklärt.

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archiv der langeweile (III)

Ich war erleichtert, als ich das Auto wieder los war. Die Langeweile hatte mir gefehlt, das stundenlange Warten an einer Bushaltestelle, an der ich die Auslagen eines kleinen Kiosks auswendig lernen, die immergleiche Kassette hören und mir jedes Detail der vollkommen uninteressanten Umgebung einprägen konnte.

Peter Haffner, Grenzfälle. S. 142. Ein wunderbares Buch übrigens und ein Autor, von dem ich mir ein Weblog wünschen würde. Auch diese Beobachtung findet sich darin:

In dem Ensemble von eingeworfenen Fensterscheiben, zersplittertem Billigholz und einer leeren Ladenpassage in der der ersten Etage traute man selbst der Uhr nicht. War sie nicht per Zufall zum richtigen Zeitpunkt stehengeblieben?

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archiv der langeweile (II)

"Haben wir uns denn", fragte er, "das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen?", und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir jedenfalls nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht. "Aber wenn nun doch?", drängte er, und nach ein paar weiteren Kreisen sagte ich: "Dann würde ich sie mir als einen Ort vorstellen, wo man sich nicht langweilen kann", wohingegen man das, so fügte ich hinzu, im Konzentrationslager könne, sogar in Auschwitz - unter bestimmten Voraussetzungen, versteht sich."

Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 272

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Langeweile

Lesenswert seiner Lektüren wegen: Giorgio Agambens "Das Offene. Der Mensch und das Tier". Läuft allerdings hinaus auf dieselbe Figur wie "Homo Sacer", die logische "Maschine", die im Einschluss den Ausschluss und damit mitten in der Zivilisation das nackte Leben produziert. Diese Figur lässt sich Agamben, wiederum, von der philosophischen Tradition vorgeben, bearbeitet sie an und mit Heidegger und Benjamin und erweist sich wieder als völlig unwillig oder unfähig, über den von Heidegger abstrakt vorgegebenen Problemhorizont hinauszudenken. Totale Verwechslung der philosophischen Figur mit der Wirklichkeit (das ist der Grundzug der Agambenschen Philosophie: darum ist das Lager bei ihm nichts anderes als eine Figur, an der ihn nicht die Wirklichkeit interessiert, sondern die Logik). Sehr schön aber wieder die Sache mit der Langeweile als dem paradoxen Ort, an dem der Mensch zu sich kommt in der nicht erkenntnisförmigen Erkenntnis, dass er, wenn man so will, nur im Nicht-zu-Sich-Kommen zu sich kommen kann. Und Heideggers Schilderung der Langeweile:

"Wir sitzen z.B. auf einem geschmacklosen Bahnhof einer verlorenen Kleinbahn. Der nächste Zug kommt erst in vier Stunden. Die Gegend ist reizlos. Wir haben zwar ein Buch im Rucksack - also lesen? Nein. Oder eine Frage, ein Problem durchdenken? Es geht nicht. Wir lesen die Fahrpläne oder studieren das Verzeichnis der verschiedenen Entfernungen dieser Station zu anderen Ordten, die uns gar nicht weiter bekannt sind. Wir sehen auf die Uhr - gerade erst eine Viertelstunde vorbei. Also hinaus auf die Landstraße. Wir laufen hin und her, nur um etwas zu treiben. Aber es hilft nichts. Nun zählen wir die Bäume auf der Landstraße, sehen wieder auf die Uhr - gerade fünf Minuten, seit wir sie befragten. Des Hin- und Hergehens überdrüssig, setzen wir uns auf einen Stein, zeichnen allerlei Figuren in den Sand und ertappen uns dabei, daß wir schon wieder nach der Uhr gesehen haben - eine halbe Stunde..."

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