Im Cisalpino, zwischen Stuttgart und Singen, vorgestern, nachmittags.
Am Tisch über den Gang ein Mann Mitte vierzig, Locken, Brille, vor sich eine Dose des italienischen Biers aus dem Bistro-Abteil im nächsten Waggon. Neben der Dose ein Plastikbecher, in den er das Bier nach und nach schüttet, daraus dann trinkt.
In Stuttgart steigt mit mir ein ungefähr gleich alter Mann ein, sehr gepflegte Erscheinung, teuer aussehendes sandbraunes Jackett, unbestimmt ausländisch. Er setzt sich an den Tisch mit dem Mann mit dem Bier.
Der Mann mit dem Bier, er hat eine tiefe, laute Stimme und ist vielleicht nicht mehr ganz nüchtern, spricht sein Gegenüber an:
"Wohin?"
Er wird auch weiter in diesem eher fordernden Ton, kaum in ganzen Sätzen reden.
Ich zucke ein bisschen zusammen, aber sein Gegenüber schrickt nicht zurück und erklärt, dass er gerade mit dem Flugzeug von Izmir nach Stuttgart geflogen ist, jetzt mit dem Cisalpino nach Zürich fährt. Es gebe leider keine brauchbare Verbindung von Izmir nach Zürich und von Izmir nach Istanbul, dann nach Zürich, das sei viel zu umständlich für ihn. Deshalb fliegt er meist über Stuttgart und setzt sich in den Zug. Er hat einen ganz leichten ausländischen Akzent, den ich nicht als türkisch identifiziert hätte, er spricht ein elegantes Deutsch, sehr viel eleganter als das seines Gegenübers. Der Mann mit dem Bier sagt:
"Schön. Sehr schön."
Er wird auch weiterhin immer "schön" sagen, ohne das, scheint mir, wirklich zu meinen. Er meint eher: "So." Oder: "Aha." Aber er sagt immer: "Schön".
Er fahre nach Luzern sagt er dann, er sei Lehrer an einer Schule, die sich um Schulabgänger kümmert, die keinen Job finden. Fünfzehn Wochen Intensivkurs, sie müssten vor allem herausfinden, was ihre eigentlichen Interessen seien.
"Und das genügt?" fragt der Mann im Anzug. "Dann finden sie einen Job?"
Ja, das sei das wichtigste. Sie müssen wissen, was ihre Interessen sind, dann finden sie einen Job. Freilich sei es hilfreich, wenn die Interessen sich auch in den schulischen Leistungen abbildeten.
Die Schweiz, denke ich mir, die Schweiz.
Der Mann aus der Türkei ist auch Lehrer, das rekonstruiere ich aus dem Fortgang des Gesprächs. Er lässt sich von dem Lehrer aus Luzern eine Visitenkarte geben, weil ihn diese Schule interessiert. Ob er auch Schüler aus Zürich dahin schicken könne. Der Schweizer schüttelt den Kopf. "Zürich ist Zürich", sagt er. "Bern ist Bern. Luzern ist Luzern."
"Basel ist Basel", sagt der Türke.
Ich bekomme nicht alles mit, gebe mich in meinen Thriller vertieft, aber meistens lausche ich doch.
Sie sprechen jetzt über die Schweiz und über die Türken, die zurück wollen in die Heimat, während ihre Kinder längst besser deutsch als türkisch reden und die Türkei nur als Urlaubsort kennen. Seine eigenen Kinder, sagt der Mann aus der Türkei, sprechen statt türkisch nur ein türkisch-deutsches Gemisch. Das ist nicht gut, sagt er in seinem tadellosen deutsch. Dann:
"In der Schweiz ist es ähnlich wie in der Türkei. Zürich ist wie Istanbul, Bern wie Ankara. Die Hauptstadt ist langweilig, aber Zürich ist lebendig wie Istanbul."
Der Lehrer aus Luzern sagt: "Schön. Sehr schön."
Sie sprechen über die Schweiz, sie sprechen über den Westen und die Türkei, Säkularisierung, den Islam. Der Schweizer hat sein italienisches Bier ausgetrunken, geht ins Cisalpino-Bistro und hat ein neues in der Hand, als er zurückkommt. Vorher fragt er sein Gegenüber, ob er ihm vielleicht ein Bier mitbringen darf. Der schüttelt den Kopf:
"Ich trinke nicht. Außerdem ist gerade Ramadan, wissen Sie. Wir fasten, das ist die Vorschrift", sagt der Türke.
"Ich weiß", sagt der Schweizer und trinkt von seinem Bier. "Ich habe als Übersetzer gearbeitet. Arabisch-deutsch, persich-deutsch. Alles Schnee von gestern." Er macht eine Bewegung mit der rechten Hand, als werfe er etwas hinter sich. Im Fortgang wird er jetzt immer wieder arabische Ausdrücke in seine selten vollständigen Sätze einflechten. Der Türke wird sich gelegentlich noch dabei ertappen, seinem Gegenüber etwas erklären zu wollen, über die Türkei, den Islam, aber er hält dann jedes Mal inne, es wird ihm klar, dass der andere das alles wohl weiß.
"Ich war sehr oft in der Türkei", sagt der Schweizer. Der Türke erzählt, dass er von einem kleinen Ort am Schwarzen Meer stammt, der andere kennt offenkundig die Gegend. Der Türke zähle vier Städte auf, eine Reihe, so wie man etwas in der Schule lernt, vier Namen, eine Stadt neben der anderen am Schwarzen Meer. Der Schweizer sagt:
"Schön. Sehr schön."
"Ich habe sehr oft einen Freund besucht in der Türkei", sagt er dann.
Sie sprechen noch ein bisschen weiter über die Türkei, Anatolien, Landschaften, Gegenden, die beide kennen.
"Aber ich fahre jetzt nicht mehr in die Türkei", sagt der Schweizer. "Mein Freund ist gestorben."
Der Türke fragt nach.
"Ich will nicht indiskret sein", sagt er, "war es eine lange Krankheit?"
Der Schweizer zögert. "Ein Unfall", sagt er, dann spricht er nicht weiter. Er schweigt.
Der Türke: "Das tut mir Leid, das wollte ich nicht."
Ich blicke hinüber und ich sehe, dass der Schweizer weint. Der Türke wiederholt sein "Das wollte ich nicht", dann sehe ich aus den Augenwinkeln, wie er sich über den Tisch beugt und mit einer etwas unbeholfenen Geste den Schweizer am rechten Arm streichelt.
Mit brechender tiefer Stimme sagt der Schweizer: "Es ist gut." Er weint noch eine Weile, still, nicht schluchzend. Dann sagt er:
"Ich kann nicht mehr in die Türkei. Es ist schon schwer, an die Türkei zu denken."
Dann sprechen sie über den Tod.
Dann sprechen sie über ein Leben nach dem Tod. Woran sie glauben. Was der Islam sagt, was das Christentum.
"Ich beschäftige mich erst seit zwei Monaten mit diesen Fragen", sagt der Schweizer.
"Sie haben vorher gelebt, als müssten Sie nie sterben", schlägt der Türke vor.
Der Schweizer zögert. "Vielleicht nicht. Aber ich war glücklich." Er zögert noch einmal, wie überlegend, ob das das Wort ist, das er gesucht hat. Es ist es: "Glücklich", wiederholt er.
Der Türke erzählt von einem Schüler, der darauf bestand, nicht zu glauben. Er verstehe, was man ihm da erkläre, aber er glaube eben nicht, habe er immer wieder gesagt. Nicht an Gott, nicht an ein Leben nach dem Tod.
"Ein Freund von mir", sagt der Schweizer, "ist schon dreimal gestorben. Herzstillstand. Er war dreimal tot. Und er hat mir berichtet: Es war nichts. Kein Tunnel, kein Licht. Nur Schwärze. Das gibt mir zu denken."
"Vielleicht war er nicht lange genug tot", sagt der Türke.
"Es gibt mir zu denken", sagt der Schweizer. "Es hat mich früher nicht berührt, aber jetzt berührt es mich."
"Wir wollen", schlägt der Türke vor, "dass es immer so weiter geht. Aber dann stirbt jemand. Jemand, den wir lieben."
"Das ist es", fährt der Schweizer auf. "Das ist es. Jemand, den wir lieben."
Wir sind kurz vor Singen. Mir ist nicht einmal schlecht, obwohl der Cisalpino sich immer in die Kurven legt im Schwarzwald und mir wird schlecht, wenn ich dabei lese. Ich schlage mein Buch zu, bin kaum vorangekommen. Dem Impuls, mich von den beiden Männern, mit denen ich kein Wort gewechselt habe, zu verabschieden, widerstehe ich. Ich steige aus.
Auf der Suche nach einem Link zu Dietmar Daths selbstverständlich ausgesprochen lesenswerter Besprechung von Diedrich Diederichsens neuem Buch (Kolumnensammlung) in der gestrigen FAZ-Literaturbeilage bin ich, rein zufällig also, auf die dümmste Besprechung aller Zeiten gestoßen. Keinen Link zum Dath gefunden, aber das wird noch, nehme ich an. Wenn freilich beim Archivieren so zusammengepappt wie in der dümmsten Rezension aller Zeiten, dann kann man sich das auch schenken.
Edit: In der FAS bekennt Joachim Lottmann, der Erfinder der Popliteratur, dass er am meisten von Diederichsen und Goetz, aber vor allem Diederichsen gelernt habe. Sieht man mal wieder, dass einer sich seine Schüler nicht aussuchen kann, bzw. dass die Schüler, wenn er sie mal ausgesucht hat, womöglich irgendwann anfangen, nur noch Scheiße zu bauen bzw. überzuschnappen bzw. herumzuhuren. Und er erzählt, Lottmann jetzt, und ich erzähle das weiter, dass er einmal mit Diederichsen vor einer Buchhandlung gestanden habe, in die er versuchsweise hineingewollt habe, dass aber Diederichsen gesagt habe, er, Lottmann, glaube ja wohl nicht, dass sich da auch nur ein Buch drin finden lassen, das was für sie, Lottman jetzt und Diederichsen, sei. Daraufhin habe Lottmann, so Lottmann, beschlossen, eben selber ein Buch zu schreiben. Und hat die Popliteratur erfunden. Steht jetzt also selber drin in der Buchhandlung, in der die beiden, Diederichsen und Lottmann, jetzt also, post festum, doch hinein gehen könnten, wo dann, das unterstelle ich mal, Diederichsen eben nicht zum Lottmann griffe, vielleicht noch nach dem Buch, mit dem er die Popliteratur erfunden hat, aber dann nach keinem Lottmann mehr, sondern nach etwas Vernünftigem. Während also die Diederichsensche Behauptung damals schon ein Unsinn war, ist sie jetzt, aber nicht durch das Lottmannsche Einschreiten gegen die Unbrauchbarkeit der Buchhandlung, für uns, Diederichsen und Lottmann, brauchbar geworden durch Zugewinn an Einsicht auf der Seite Diederichsens. Unterstelle ich jetzt einfach. Ich weiß aber auch gar nicht, was für eine Buchhandlung das war.
Eine lustige Liste wichtiger Menschen im Kultur- bzw. Literaturbetrieb, an der erstens schön ist, dass sie namentlich Frank Schirr -macher und Elke Heiden -reich guillotiniert, und zweitens, dass Kirsten Fuchs gleich zweimal darauf auftaucht.
Man verwendet viel öfter «saeng-gak-i-dun-da» (Kommen oder Sicheinnisten des Denkens) anstatt «saeng-gak-han-da» (denken). Es heisst sogar «ma-um-e-dun-da» (nistet sich im «ma-um» ein), wenn einem etwas gefällt oder wenn man jemand mag. Dabei ist «ma-um» das emotionale Zentrum, physisch im Brustbereich lokalisiert. Ebenso hört man häufig «ma-um-i-a-pu-da» («ma-um» schmerzt), wenn man sagen will «ich leide».
Wär' ich Joachim Lottmann, ich wäre mir ja so peinlich. Ich würde mich vor mir selbst verkriechen in irgendeinen Winkel und nicht mehr rauskommen und mir würde der Geifer runterlaufen wegen der sexy frommen Mädels, an die ich immer denken muss seit damals in Köln, und ich würde immerzu peinlich berührt rufen, dass ich der Erfinder der Popliteratur bin, was eventuell noch nicht alle wissen, ich würd' die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn ich nur an mich dächte, und wie ein kleiner Hund mit Schleifchen im Haar und mit wedelndem Schwanz würde ich, in meiner Ecke, um Giovanni di Lorenzo herumwinseln, der mir auch wahnsinnig peinlich wäre, und ich würde laut rufen, der Giovanni ist so schön und er hat den Journalismus erfunden, was eventuell noch nicht alle wissen, und dann würde ich, hier in meiner Ecke, die Leute vom Spiegel eifrig abschlecken, an allen Stellen, an denen sie es eventuell wünschen, mich schüttelnd vor Selbstekel, und zwar weil sie mir die Chance geben, aller Welt zu zeigen, was für ein widerlicher, peinlicher Sack ich bin. Ja, so wär' das, wenn ich Joachim Lottman wär'.
Eine Einstellung, für die man nicht bezahlt, die man nicht offiziell macht, mit Polizei-Genehmigung und Absperrung, nennt man in der Branche eine "gestohlene Einstellung".
Schreibt Harun Farocki hier. In "Dilwale Dulhanya La Jayenge", den ich gestern beim zweiten Mal nur noch schwer ertrug, haben die Inder, zum Teil bei Nacht und Nebel, ganz Europa gestohlen. (Bzw. die Schweiz als Europa-Impersonator.)